Wenn ich behaupten würde, ich kenne Thailand, dann wäre ich ein Aufschneider, ein Prahlheld oder ein Maulheld, denn der Facettenreichtum dieses Landes ist unermesslich. In all den vielen Jahren, die ich hier in diesem Land lebe, habe ich täglich etwas hinzugelernt, aber noch lange nicht alles.
Im Gegensatz zu Günther Grass, der nach sechs Monaten in Kalkutta sich anmaßte, darüber zu urteilen und ein Buch darüber schreiben zu können, mit dem Fazit, dass Kalkutta im Grunde nichts als eine Kloake sei, bleibe ich zurückhaltend und versuche mehr über dieses Land und seine Bewohner zu erfahren. Irgendetwas gibt es hier immer zu entdecken, sei es, wie Familien miteinander kommunizieren, die weit voneinander entfernt leben, sei es, wie völlig verarmte Menschen überleben. Ich will mehr wissen, und ich mische mich ein. Warum will Tschai, der täglich barfuß und nur mit einer Hose bekleidet ist, meine Shirts nicht haben? Täglich begegne ich ihm. Er nächtigt in einer Bauruine. Gerne nimmt er meine kleine Geldspende entgegen, aber ein Shirt will er nicht. Vielleicht, weil er dann weniger Zuwendung findet? Ich weiß es nicht. Er macht nicht den Eindruck, als ob er leidet. Im Gegenteil, er ist selbstbewusst, nimmt Spenden entgegen wie ein Mönch, dem man zu danken hat, dass er diese Spende annimmt.
Natürlich gibt es DEN Thai so wenig, wie es DEN Schweizer oder DEN Deutschen gibt. Aber es gibt schon die Siamesen, deren Nationalstolz unverkennbar ist, die sich auch von den Farangs nicht verbiegen lassen, und die vor Selbstbewusstsein strotzen, selbst dann, wenn sie nicht mehr besitzen als die Kleidung auf ihrer Haut. Und sie haben Recht! Sie dürfen, im Gegensatz zu den Deutschen, stolz sein auf ihre Vergangenheit. Hier durften alle Religionen sich ausbreiten. Hier wurde kein Jude, kein Roma, kein Schwuler oder sonst ein Ausländer getötet, nur weil er anders war. Buddha, der weise Königssohn, hat den Samen der Toleranz in diese Nation gepflanzt. Und auch der unauslöschliche Geisterglaube hat daran nichts verändert. Es gibt gute und böse Geister, und wer die guten pflegt, dem wird es gut gehen. Eine zusätzliche Spende für den Tempel sorgt dafür, dass es auch im nächsten Leben vorangeht.
„Fremde Kulturen sind für Touristen eigentlich nur zum Vergnügen oder zur Zerstreuung da“ (Zitat von Jeremy Seabrook). Klar, was es hier alles gibt, was bei uns verboten ist, was es bei uns nicht gibt oder nie gab: Für den einen ist es der freigiebige Sex, für andere sind es die imposanten Tempel und für Gourmets das exotische Essen. Hier kann jeder sein persönliches Paradies finden. Deshalb braucht Thailand auch nicht zu fürchten, dass die Touristen ausbleiben. Sie werden weiterhin kommen, ungeachtet aller Geschehnisse, die anderen Ortes zum Boykott führen würden. Sie werden in der Sonne liegen, den einen oder anderen Tempel bestaunen und Thai-Food essen.
Von Thailand werden sie allerdings nichts begreifen. Wie war es in Thailand? „Toll. Preiswert. Prima Wetter.“ So reiht sich Generation an Generation. Immer wieder und nichts verstanden. Thailand bleibt ein rätselvolles Land. Selbst langjährigen Expats ist dieses Land geheimnisvoll geblieben. Wenn man glaubt, ein Rätsel gelöst zu haben, ergibt sich daraus ein neues
Die meisten Touristen interessiert das nicht. Sie machen eine Short-Tour durch das Land, genießen die Strände und fahren zwei Wochen später glücklich heim. Es sei ihnen gegönnt. Trotzdem behaupte ich: Von Thailand haben sie nichts, aber auch gar nichts begriffen. Weder von der Kultur, die älter ist als die europäische, noch von den Thais, die sie an den Straßenrändern oder vor den Bars kennen gelernt haben. Thailand erschließt sich nur denen, die hinter die vordergründige Fassade schauen, die Zeit und Muße investieren, um sich dem Geheimnis zu nähern, das die Thais zu bewahren versuchen. Zugegeben, diese Kultur ist brüchig geworden, einiges wurde aufgegeben, anderes verramscht. Thailändische Wissenschaftler haben begriffen, dass es an der Zeit ist, die Vergangenheit zu bewahren für zukünftige Generationen. Nationale Heiligtümer und Gebäude werden renoviert oder dem internationalen Weltkulturerbe unterstellt. Zahlreiche Landstriche werden zu Nation-Parks erklärt, wo die letzten wildlebenden Tierarten überleben können. Und das, obwohl es immer noch geldgierige Wilderer gibt, die diese Tiere abschlachten, um mit ihren Fellen, Eingeweiden oder Hörnern große Geschäfte zu machen. Andere versuchen, ihnen dieses Geschäft zu vermasseln und werden im Falle eines Falles gnadenlos umgebracht.
Das ist Thailand? Ein Land voller Widersprüche. Wer mir erklären kann, wie oder was Thailand ist, der möge es mir sagen. Ich weiß es nicht, immer noch nicht. Aber ich werde nicht aufhören, danach zu suchen, um dieses Rätsel vielleicht irgendwann zu lösen.