Die Himmelsleiter

In der Nachbarschaft steht eine Ruine. Es war ursprünglich wohl ein Einfamilienhaus mit zwei Stockwerken geplant und einer Außentreppe, die auf eine Dachterrasse führt. Die Treppe wuchs erstaunlicherweise immer weiter in die Höhe ohne jeden erkennbaren Bezug zum Haus, das im Rohbau mit gähnenden Fensteröffnungen wie ausgebombt am Rand der Einfamilienhaussiedlung steht.

Ich blieb staunend davor stehen und konnte mir keinen Reim daraus machen. Was bezweckt die Bauherrschaft wohl damit? Wollte sie erst die Treppe bauen und damit die Höhe vorgeben, um dann das Haus selbst auf dieses Maß hochziehen? War sie sich noch unschlüssig über die Anzahl der Stockwerke oder reichte das Geld nur noch für die Außentreppe?

Aufstieg ins Nichts

So gesehen hätte sie auch als Kunstwerk durchgehen können. Mit einem passenden Titel versehen hätte sie bestimmt in Kunstkreisen Furore gemacht: „Treppe ins Nirgendwo“ von An-Sing. So heißt mein Schwiegervater und er hätte sich gut als Künstlername geeignet. Aber er hätte natürlich eine Gegenleistung erwartet, einfach so in meiner Kolumne erwähnt zu werden wäre nicht verlockend gewesen und der Anlass zu irrwitzig – wie erklärt man einem Reisbauern aus dem Isaan sowas?

Hier ist die Lösung, die ihm die Sache schmackhaft gemacht hätte: Unten beim Aufgang hätte er ein kleines Kassenhäuschen hinstellen können und gegen einen Obolus wäre „Zutritt und Aufstieg ins Nichts“ gewährt worden. Irgendwann wären die Medien darauf aufmerksam geworden und die Behörden hätten sie ins Museum verfrachtet, um sie vor dem Verfall oder Diebstahl zu schützen, wodurch mein Schwiegervater zwar berühmt, aber auch arbeitslos geworden wäre. Zurück in seinem Weiler im Isaan hätte ihm die Story kein Schwein geglaubt und er kann von Glück reden, dass sie dort keine Irrenhäuser haben.

Absurd ist schön und liebenswert

Aber wie ging es wirklich weiter? Nun, das Haus blieb im Rohbau stehen, jahrelang. Die Treppe zeigte wie ein stummes Menetekel zum Himmel, als wollte sie sagen: Der Turm zu Babel war auch zu nichts nütze, aber jeder kennt ihn heute noch und das schaffe ich auch.

Mit der Zeit hatte ich mich daran gewöhnt, aber das war ein Fehler. Es ist nicht ratsam, sich an unnütze Dinge zu gewöhnen und sie lieb zu gewinnen. Was würden wohl die Pariser sagen, wenn der Eifelturm plötzlich weg wäre? Sie würden „Zeter mordio“ schreien. Aber sie haben ja nur einen. Die Einzigartigkeit bestimmt den Wert, von praktischem Nutzen kann auch bei ihm nur bedingt die Rede sein. Als man ihn in den 80ern des 19. Jahrhunderts zur Weltausstellung 1889 baute, ging ein Sturm der Entrüstung los, angeführt von der intellektuellen Schickeria (Balzac und Zola). Für sie war er ein Schandfleck und man erwägte bis in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts ihn wieder abzureißen. Nur das Aufkommen des Radios soll ihn vor dem Abbau gerettet haben, weil er sich als ideale Antenne und Sendemast anerbot.

Leere Betonburgen als Wahrzeichen

Und was würden die Einwohner von Hua Hin sagen, wenn „ihre“ Himmelsleiter plötzlich verschwunden wäre? Natürlich nichts. Aus einem einfachen Grund: Sie ist nur mir aufgefallen, die Leute hier sind einfach schon gewohnt, dass ganze Wolkenkratzer leer stehen oder im Rohbau zerbröseln und von Treppen flankiert sind, die wie ein Fingerzeig ins Leere nach oben weisen. Nur ein Farang nimmt sowas überhaupt zur Kenntnis. Ich bemerkte es aber nicht nur, ich war schockiert, als eines Tages die Bagger auffuhren und „tabula rasa“ machten. „Meine“ Treppe lag am Boden, wie Bauklötze, wenn ich als Kind dem Bauwerk einen Stoß verpasst hatte, und es krachend zusammenfiel, was sowieso das Tollste daran war.

Ich habe durch dieses Ereignis dazugelernt. Ich radle inzwischen ungerührt durch ganze Häuserschluchten im Rohbau, zucke lediglich mal mit den Schultern, wenn ich vom Strand hoch zu den Betonburgen schaue, die alle unbewohnt sind. Kein Licht in den Fens­tern, keine Wäsche auf den Balkonen, keine Menschenseele weit und breit, aber alles bewacht, als wäre das Nichts das kostbarste auf der Welt.

Überall sind Kameras und als ich einmal mit der Familie zwischen zwei Betonmonstern zur Hauptstraße gehen wollte, tauchten aus diesem Nichts bewaffnete Uniformierte auf – die Totenwächer von Nomensland. Wir wichen zurück, als wären wir einer Zombietruppe begegnet. Vermutlich haben sie in ihr Logbuch geschrieben: „Sonntag, 10.30 Uhr. Eindringlinge erfolgreich abgewehrt und verwarnt. Es waren vermutlich Einbrecher, die sich als Touristen verkleidet hatten und die leeren Condos ausplündern wollten. Bitte das Wachpersonal aufstocken“.

P.S: Vor ein paar Wochen gingen Bilder aus China um die Welt: Sie zeigten die Sprengung einer ganzen Anzahl von Betonburgen, die wie Kartenhäuser zusammenfielen. Es gibt also noch Hoffnung.


Über den Autor

Khun Resjek lebt mit seiner thailändischen Frau und Tochter in Hua Hin. Seine Kolumne „Thailand Mon Amour“ illustriert auf humorvolle Weise den Alltag im „Land des Lächelns“ aus der Sicht eines Farang und weist mit Augenzwinkern auf das Spannungsfeld der kulturellen Unterschiede und Ansichten hin, die sich im Familienalltag ergeben. Ein Clash der Kulturen der heiteren Art, witzig und prägnant auf den Punkt gebracht.

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