«Stuttgarter Zeitung» zu Europawahl/Jungwählern
EINES LIEGT AUF DER HAND: Die großen Parteien haben keinen Draht zu den Jungen.
Und das seit Langem. Das allein auf ihre fehlende Präsenz auf der Online-Plattform Tiktok zu schieben, wo die AfD viel stärker ist als andere Parteien, ist etwas kurz gesprungen. Dennoch dürfte die Mediennutzung der jüngeren Menschen ein Schlüssel sein. Die Frage, wo man die jungen Menschen heute überhaupt erreicht, ist eine, die sich Parteien und Medien gleichermaßen stellen müssen. Und wenn geprüfte und unabhängige Informationen nicht mehr zur Meinungsbildung beitragen können, wenn klassische Strukturen für den politischen Diskurs nicht mehr funktionieren, braucht es dringend eine Neuaufstellung. Denn ohne eine gemeinsame Öffentlichkeit kann eine politische Debatte auch nicht mehr stattfinden.
«Frankfurter Allgemeine Zeitung» zu Ergebnis/Ampelparteien
(.) Nach nur zweieinhalb Jahren haben die Deutschen der "Fortschrittskoalition" attestiert, dass sie genug von deren Politik und Streitereien haben.
(.) Die Sozialdemokraten haben Scholz als Zugpferd plakatiert. Gezogen hat er die Partei auch, allerdings weiter nach unten. (.) Noch mehr als die Sozialdemokraten leiden die Grünen darunter, dass das Pendel des Zeitgeists in Europa nach Jahrzehnten der Linksdrift zurück nach rechts schwingt. (.) Die Ampel wird also erst einmal weiter Deutschland den Weg weisen - in verschiedene Richtungen. Die drei Parteien werden ihre Ergebnisse als ultimative Aufforderung verstehen, ihre Programme stärker durchzusetzen. Es dürfte daher nicht weniger Streit geben, sondern mehr.
«Washington Post»: Geiselbefreiung brachte Waffenruhe nicht näher
WASHINGTON: Nach der Rettung von vier Geiseln durch israelische Kräfte aus Gaza sind die Chancen für eine Waffenruhe weiter unklar. Dazu schreibt die «Washington Post»:
«Gewiss ist, dass alle am Samstag Getöteten vermutlich noch am Leben wären, wenn die Hamas-Kämpfer keine Geiseln genommen (....) und sie absichtlich in einem dicht besiedelten Gebiet festgehalten hätten. Genauso sicher (...) ist der Fakt, dass die Zahl der zivilen Opfer in Gaza bereits zu hoch war. (...) Diese Zahlen zeugen von immensem menschlichem Leid - insbesondere der Kinder in Gaza - und davon, wie dringend es ist, das Kämpfen zu stoppen.
Es gibt einen Weg, dies zumindest vorübergehend zu erreichen: den Plan, den US-Präsident Joe Biden vorgestellt hat. (...) (Israels Regierungschef Benjamin) Netanjahu ist nicht willens, sich auf einen Weg zu einem dauerhaften Waffenstillstand einzulassen, solange die Hamas Gaza kontrolliert. (...) Die Hamas sträubt sich ihrerseits; ihr militärischer Führer in Gaza, Jihia al-Sinwar, sagte Berichten zufolge arabischen Vermittlern, er werde nichts Geringeres als einen dauerhaften Waffenstillstand und einen vollständigen Rückzug Israels akzeptieren. (...)
Wie sich die Geiselbefreiung vom Samstag auf die Aussichten für einen Deal auswirkt, ist unklar. Sie könnte die Positionen beider Seiten verhärten, indem sie Netanjahu von einem militärischen Sieg überzeugt, und die Hamas entschlossen macht, sich für die blamable Niederlage zu rächen. US-Außenminister Antony Blinken kehrt diese Woche für weitere Verhandlungen nach Nahost zurück. Jene, die sich wahrhaftig bessere Zeiten für die Palästinenser - und Israelis - wünschen, werden ihm Erfolg wünschen.»
«La Repubblica»: Deutsch-französische Lokomotive steht still
ROM: Die italienische Tageszeitung «La Repubblica» meint am Montag zum Ergebnis der Europawahl:
«Frankreich und Deutschland müssten wie immer die Lokomotive Europas sein, um es durch die großen Krisen, die uns umgeben, in eine neue Zeit zu führen. Jetzt ist dieser Zug stehen geblieben. Der gesamte Prozess der Stärkung der Union ist zum Stillstand gekommen.
Gerade zu einem Zeitpunkt, da Europa bei seiner Rolle und seinem politischen Gewicht einen Sprung nach vorn machen und eine souveräne Subjektivität bekommen müsste, um die Krisen zu bestehen, wird die Rechte den Prozess des europäischen Aufbaus blockieren - sehr zur Zufriedenheit von (Russlands Präsident Wladimir) Putin. Es sei denn, die Bürger nehmen sich nach diesem Alarmsignal ihre Geschichte und ihre Verantwortung zurück und vereinen sie in einem neuen europäischen Engagement: Es geht bergauf, aber das Spiel hat gerade erst begonnen.»
«Dagens Nyheter»: Jetzt müssen die Pro-Europäer zusammenhalten
STOCKHOLM: Die liberale schwedische Tageszeitung «Dagens Nyheter» kommentiert am Montag das Ergebnis der extremen Rechten bei der Europawahl:
«Die extreme Rechte wird vorpreschen, hatten die Meinungsumfragen gewarnt. Somit bestehe auch die Möglichkeit, eine neue Art von Mehrheit im Europaparlament rechts der Mitte zu bilden, hieß es.
Das Wahlergebnis zeigt, dass die EU in Zukunft auf eine harte Probe gestellt wird. Doch die mathematische Gleichung ist nicht unwichtig: Zusammen bekommen die Parteien der beiden rechtsextremen Gruppen ID und ECR die Stimme von bis zu jedem fünften Wähler.
Das sind also nicht annähernd 51 Prozent - eine rechte Mehrheit existiert schlichtweg nicht. Die Mehrheit der Wähler ist vielmehr - auch bei dieser Wahl - in der breiten proeuropäischen Mitte zu Hause.
Diese Stimmen sagen mehr über die Wünsche der Europäer aus als das knappe Fünftel, das die extreme Rechte bekommen hat. Und diese Botschaft muss nun umgesetzt werden.
Es steht viel auf dem Spiel. Um die Ukraine unterstützen und den Klimawandel bewältigen zu können, muss die EU-Zusammenarbeit vertieft werden - und die Union muss zusätzliche Stärke sammeln. Das kann nur auf eine Weise geschehen: Die proeuropäische Mitte muss vorangehen.»
«La Vanguardia»: Der politische Rahmen in Brüssel bleibt unverändert
BARCELONA: Die spanische Zeitung «La Vanguardia» kommentiert am Montag das Ergebnis der Europawahl:
«Die erste Interpretation der gestrigen Europawahl ist, dass sich der Rahmen, in dem sich die Politik in Brüssel (...) bewegt, durch diese Ergebnisse nicht ändern wird. Es wird alles beim Alten bleiben. Beginnen wir mit Europa: Die EU-Bürger blicken mehr nach rechts, aber die parlamentarische Mehrheit aus Christdemokraten, Sozialisten und Liberalen, die die europäische Politik in den letzten Jahren de facto bestimmt hat, wird mit einem deutlichen Vorsprung weitermachen können. Die extreme Rechte ist gewachsen, aber nicht genug, um diese Mehrheit zu ersetzen, und eine der größten Bedrohungen für die Zukunft der EU ist verschwunden. Die rechtsextremen Parteien werden weiterhin die viert- und fünftgrößte Fraktion im Europäischen Parlament stellen.
Die große Überraschung des Abends war die Ankündigung von Emmanuel Macron, die französische Nationalversammlung aufzulösen und unmittelbar vor den Olympischen Spielen in Paris Neuwahlen anzusetzen. Eine Niederlage für seine Partei und ein Erfolg für Marine Le Pen waren erwartet worden, aber die Dringlichkeit, die Wahlen anzukündigen, sobald die Umfragen bekannt waren, ohne die Ergebnisse abzuwarten, war bemerkenswert.»
«Lidove noviny»: Green Deal muss überarbeitet werden
PRAG: Die konservative Zeitung «Lidove noviny» aus Tschechien schreibt am Montag zum Ergebnis der Europawahl:
«Viele Politiker haben uns versprochen, den Green Deal zu überdenken und den Verbrennungsmotor und damit die europäische Automobilindustrie zu retten. Zwar liegt es auf der Hand, dass man den Green Deal nicht mehr abschaffen kann, denn Europas Staaten und Firmen haben bereits enorme Investitionen getätigt. Doch es wäre angebracht, ihn zu überarbeiten, vor allem im Hinblick auf seine sozialen Auswirkungen. Denn es muss keine Katastrophe bedeuten, den Verbrennungsmotor durch die Elektromobilität zu ersetzen, solange man nur auf sozialistische Verpflichtungen und einen aktivistischen Zeitplan verzichtet. Weit schlimmere soziale Auswirkungen dürfte indes die Verpflichtung haben, alle Gebäude bis 2050 klimaneutral zu machen. Das könnte zu einer enormen Verschuldung der Einzelnen und des Staates führen und den Wohnbestand in armen Mitgliedstaaten in die Hände von Banken und Immobilienspekulanten treiben. Wir sollten von denjenigen, die uns Versprechungen gemacht haben, nun Ergebnisse einfordern.»
«Tages-Anzeiger»: Rechtsextreme Welle trifft Europa mitten ins Herz
ZÜRICH: Zu den Erfolgen populistischer und rechtsextremer Parteien bei der Europawahl heißt es am Montag im Schweizer «Tages-Anzeiger» (Online-Ausgabe):
«Eigentlich bräuchte es jetzt ein starkes Europa, eine EU die liefert und Antworten bereit hat. In Moskau macht Wladimir Putin keine Anstalten, seinen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine einzustellen. China greift mit Dumpingpreisen Europas industrielle Basis an, und im November droht in den USA möglicherweise ein Comeback von Donald Trump. Doch nach der Europawahl vom Wochenende steht die Europäische Union geschwächt und verunsichert da. Der Vormarsch der Populisten und Rechtsextremen war zwar prognostiziert worden. Aber am Ende überrascht die Wucht doch, mit der in Paris Emmanuel Macron desavouiert und in Deutschland die regierenden Sozialdemokraten von Olaf Scholz deklassiert wurden.
In Paris ergriff Frankreichs Präsident die Flucht nach vorn und rief vorgezogene Neuwahlen aus. Es ist ein Schritt mit großem Risiko, nicht zuletzt für die EU, sollte Marine Le Pen mit ihrem rechtsextremen Rassemblement National Ende Juni ebenfalls die Parlamentswahlen gewinnen. Auch in Berlin sind möglicherweise die Tage der Koalition von Olaf Scholz gezählt. Die rechtsextreme Welle trifft Europa mitten ins Herz. Frankreich und Deutschland geben in der EU oft Tempo und Richtung vor. Dieser deutsch-französische Motor wird noch weniger Zugkraft haben als bisher, vielleicht ganz ausfallen. Scholz und Macron dürften in nächster Zeit mit politischen Aufräumarbeiten und mit ihren nationalen Agenden beschäftigt sein.»
«NZZ»: Der Ampel stehen lebhafte Zeiten bevor
ZÜRICH: Zum Abschneiden der Ampel-Parteien bei der Europawahl heißt es am Montag in der «Neuen Zürcher Zeitung» (Online-Ausgabe):
«Die deutschen Regierungsparteien haben nach einer Serie von Verlusten bei Landtagswahlen auch bei der Europawahl an diesem Sonntag einen empfindlichen Dämpfer erhalten. (.) Denkbar ist, dass das Ergebnis die seit längerem schwelende parteiinterne Diskussion befeuert, ob Kanzler Olaf Scholz der richtige Kandidat für die Bundestagswahl 2025 ist. (...)
Eigentliche Verlierer der Wahl nach Verlusten sind die Grünen mit 11,9 Prozent der Stimmen. Diese verloren gegenüber ihrem Ergebnis von 2019 mit 8,6 Prozentpunkten so viel wie keine andere Partei. (.) Die noch ausstehende Nominierung eines Kanzlerkandidaten für die kommende Bundestagswahl dürfte vor diesem Hintergrund nur noch symbolische Bedeutung haben.
Die FDP verlor mit 0,5 Prozentpunkten nur leicht und erreichte 4,9 Prozent der Stimmen. Zwar spielt die 5-Prozent-Hürde bei der Wahl zum Europäischen Parlament anders als bei jener zum Deutschen Bundestag keine Rolle. Allerdings ist das Ergebnis für die um ihre parlamentarische Existenz im Bundestag bangenden Liberalen symbolisch von Bedeutung. (.)
Der deutschen Regierungskoalition stehen angesichts der Verluste lebhafte Zeiten bevor. Die internen Fliehkräfte dürften zunehmen, müssen die Partner im Hinblick auf die nahende Bundestagswahl doch zunehmend auf Profilierung setzen.»
«de Volkskrant»: Von der Leyen steht vor einer Gratwanderung
AMSTERDAM: Die niederländische Zeitung «de Volkskrant» analysiert am Montag die Chancen von Ursula von der Leyen auf eine zweite Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin:
«Die erste wichtige Abstimmung im neu konstituierten EU-Parlament ist die über die Besetzung des Spitzenamtes der Europäischen Kommission. Die derzeitige Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat die besten Karten, zumal ihre Christdemokraten weiterhin die mit Abstand größte Fraktion stellen. Es wird erwartet, dass sie von der Mehrheit der Regierungschefs nominiert wird, aber letztlich wird das Parlament über die Ernennung entscheiden. (...)
Wenn alle Abgeordneten der proeuropäischen Fraktionen sie unterstützen, gibt es für Ursula von der Leyen kein Problem, aber danach sieht es nicht aus. Die französischen Liberalen, aber auch einige Sozialdemokraten und Grüne wollen sie nicht. In den kommenden Wochen wird von der Leyen mit den verschiedenen Fraktionen verhandeln, darunter auch mit der rechtsgerichteten Fraktion Europäische Konservative und Reformer (EKR). Die Fraktion Identität und Demokratie (ID) hat sie wegen deren antieuropäischen und prorussischen Ansichten ausgeschlossen.
Auf der Grundlage dieser Gespräche wird von der Leyen das politische Programm der EU zusammenstellen, mit dem sie sich die nötigen Stimmen sichern will. Das wird eine Gratwanderung, denn je mehr sie nach rechts tendiert, desto mehr Stimmen verliert sie bei den proeuropäischen Gruppen.»