Jedes Jahr fliegt Carlos einmal für ein paar Wochen nach Deutschland. Er unterhält dort noch eine Wohnung und freut sich jedes Mal darauf, viele alte Freunde wieder zu sehen. Er besucht den befreundeten Hausarzt, der mit Carlos Bluthochdruck gar nicht zufrieden ist, obwohl der heute niedriger ist als vor 20 Jahren. Aber irgendetwas muss der ja monieren, um seine Berufsehre zu retten, bevor wir uns dann gemeinsam in eine alte Weinstube begeben. Er versucht, Carlos zum Rotwein zu überreden, aber der antwortet ihm: "Rotwein werde ich trinken, wenn ich mal alt bin. Das hat noch Zeit". Der Doktor sagt nichts, aber sein Blick spricht Bände: "Du hast Dein Limit doch längst erreicht, Alter". Das nötigt Carlos nur ein Grinsen ab, denn er erinnert sich, genau diesen Satz schon vor zwanzig Jahren gehört zu haben. Der trockene Rheingauer Riesling schmeckt ihm ausgezeichnet. In dieser Qualität ist er in Thailand kaum erhältlich oder kaum bezahlbar. Der deutsche Spargel ist ein weiterer Grund, zu dieser Jahreszeit die alte Heimat zu besuchen.
Deutscher Spargel & ein trockener Riesling
Mit Frühkartoffeln, Sauce Hollandaise oder ausgelassener Butter und Schwarzwälder Saftschinken eine unwiderstehliche Versuchung für Carlos. Freunde bereiten ein Fest für ihn vor. Das hat schon Tradition. Dabei trifft er an einem Tag viele Menschen, die ihm wichtig sind, mit denen ihn Geschichten aus seiner Vergangenheit im Fernsehen und im Theater verbinden.
Aber dann, nach etwa einer Woche, spätestens nach zehn Tagen beginnt eine innere Unruhe. Carlos hat seine Steuerklärung abgegeben, seine Bankgeschäfte erledigt, alles geregelt, was für die kommenden elf Monate wichtig ist. Nun fragt er sich: Was soll ich noch hier? Wie nennt man dieses Symptom? Heimweh? Heimweh nach Pattaya, dieser verlotterten Stadt, über die Carlos schon so oft gelästert hat?
In Deutschland: Heimweh nach Pattaya
Ja, Carlos will zurück nach Pattaya, er will heim. In Deutschland merkt er, dass Thailand seine Heimat geworden ist mit all ihren guten, aber auch mit ihren zu kritisierenden Seiten. Das Thai-Virus hat ihn schon vor 26 Jahren befallen, als er erstmals in dieses damals so exotische Land kam. Er hat hier wunderbare Erfahrungen gemacht, unvergessliche Erlebnisse und außergewöhnliche Begegnungen gehabt, die er nicht missen möchte. Thailand hat sein Leben auf eine fast mystische Art verändert. Daran war der Buddhismus nicht unbeteiligt.
Der hat den Lebenskompass von Carlos neu justiert. Das klingt jetzt vielleicht undankbar gegenüber der alten Heimat, aber so ist es nicht gemeint. Ohne das Vorleben in Deutschland wäre es für ihn gar nicht möglich gewesen, hier zu leben. Die deutschen Wurzeln, die Kultur, die Ausbildung und das Berufsleben haben Carlos geprägt und werden immer ihren Wert und seine Dankbarkeit behalten. Andererseits gab es das Eine oder Andere, das Carlos gerne gegen das Leben in Thailand ausgetauscht hat. Und damit meint er nicht nur das Wetter
Okay, jetzt sitzt er auf dem gepackten Koffer in Deutschland und wartet darauf, dass er endlich zurückfliegen kann. Eine ganze Woche noch, sagt der Kalender. Carlos macht verzweifelt Pläne, um die Zeit zu überbrücken: Er wird am Sonntag mit Artur und Hilde zum Spargelessen nach Finthen fahren, im Maxi-Kino "The Kings Speech" sehen, seine Familie zum Mittagessen in die Fischzucht im Taunus verfrachten, um dort mit ihnen fangfrische Forellen zu genießen, er wird im Staatstheater "Salome" sehen und die Schirn in Frankfurt besuchen. Am letzten Tag wird er noch ein paar Spezialitäten für die Freunde in Pattaya einkaufen, vielleicht eine Vorstellung im Mainzer "unterhaus" besuchen, und dann geht es endlich zum Flughafen in Frankfurt.
Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt
Carlos ist froh und glücklich. Er meint: In zwölf Stunden bin ich wieder "zu Hause".
Und während er noch beim Einchecken ist, überfällt ihn der Gedanke: Und dann? Wieder in Pattaya, wieder überall Müll, kaputte Straßen und Stolperwege, dreckige Strände, schmutziges Meerwasser und unzumutbare Verkehrsverhältnisse?
Okay, Carlos kennt die Welt. Er weiß, dass es viele Gegenden gibt, wo die Verhältnisse katastrophaler, die Lebensumstände unerträglicher sind. Aber genau deshalb hat er sich ja nach vielen Reisen Pattaya als Altersruhesitz ausgesucht, deshalb lebt er hier und möchte dazu beitragen, dass dieses Lotterstädtchen zu dem "Paradies" wird, als das es in den Werbebroschüren weltweit vermarktet wird. Dazu gehört auch, Kritik zu üben, seinen Mund aufzumachen oder dem Bürgermeister mal einen Brief zu schreiben und ihn auf Missstände hinzuweisen. Sonst wird sich hier nie etwas ändern!
Carlos meint: Wer jeden Kritiker verteufelt und ihm nahelegt, das Land zu verlassen, hat ganz offensichtlich von lebendiger Demokratie noch nicht allzu viel verstanden. Demokratie lebt von Menschen, die sich für positive Veränderungen einsetzen. Das gilt in einer globalen Welt immer und überall. Denn wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt.