ALLE LIEBEN MR JOHN

Fortsetzungsroman von Wolfgang Rill – Teil 37

(Fortsetzung von FA17/2023)

Bevor die große Gruppe zum Krematorium, in Thailand Sala genannt, rüberging, hob der Bürgermeister die Stimme und bat um Ruhe. Alles gruppierten sich im Halbkreis um ihn, und er wiederholte noch mal die Mahnungen, die jeder schon kannte:

Liebe Trauergäste, ich störe ungern die Würde dieser Totenfeier. Aber aus gutem Grund möchte ich alle noch einmal an etwas erinnern: Diese Feier hier hat nie stattgefunden! Wir alle, aber der Polizeichef, Frau Anuthida und ich im Besonderen, kommen in Teufels Küche (er benutzte die entsprechende Thai-Wendung, denn bei Buddha gibt es keinen Teufel), wenn etwas nach außen dringt. Wir haben die Feier extra so früh am Tag gelegt, um möglichst wenig Zeugen zu haben. Bitte denken Sie alle daran, auch später nichts verlauten zu lassen. Leicht kann man sich verplappern – und dann benutzte der Bürgermeister die Thai-Redensart, die dem Deutschen »dann haben wir den Salat« entspricht.

Khun Peter aus Bangkok war etwas aufgeregt. Dies war zwar keine reguläre Verbrennung nach thailändischem Ritus, denn dafür reichte die Zeit bei weitem nicht aus, aber alle waren bemüht, möglichst viele der Gebräuche zu befolgen. In seiner Tasche knisterte der Ausdruck der Anweisungen für das Verbrennungsritual, das ihm Eule vor zwei Tagen zugemailt hatte:

Bevor die Leiche in den Sarg kommt, wird ihr von den Familienmitgliedern, Verwandten sowie Trauergästen sauberes Wasser, das oft mit thailändischem Parfüm veredelt ist, langsam auf die rechte Hand gegossen. Dieses symbolische »Reinigen« soll von allen bösen Gedanken und Taten zwischen den Verstorbenen und den Lebenden befreien.

Mr John wird also weit aus dem Auto gezogen und auf zwei Böcken abgestützt. Der Deckel des provisorischen Sarges wird entfernt, und da liegt er nun. Nur der Kopf schaut unter dem Tuch heraus. Die drei Jahre haben ihm zugesetzt. Man erkennt ihn kaum noch. Die Gesichtszüge sind weiter eingefallen, und der beginnende Prozess des Auftauens zaubert Wassertropfen auf die Wangen und in die nassen Haare. Es sieht aus, als habe der Tote gerade geduscht. Eine Schlange formiert sich, und jeder gießt aus einer Tasse Wasser über die rechte Hand, die unter dem Tuch hervorragt.

Der Lebende bittet den Verstorbenen um Vergebung. Er selbst verzeiht dem Verstorbenen ebenfalls. Dies soll die Seele beruhigen. Alle Schuldgefühle werden neutralisiert, so dass sich die Seele ohne Belastung frei entscheiden kann, wohin sie sich bewegt … Zwar zerfällt der Körper nach dem Tod, die Energie der Seele (Odem) ist jedoch unsterblich. Die Seele ist todlos.

Mach’s gut, alter Schlawiner, denkt Peter beim Wassergießen. Hast es diesmal gut gemacht mit dem Leben. Hoffe, du wirst das nächste Mal nicht als Regenwurm geboren.

Nachdem alle Gäste den Verstorbenen mit Wasser begossen haben, wird die Leiche behutsam in den Sarg gelegt. Der Sarg ist entweder rot oder weiß, kunstvoll und mit goldenen Mustern verziert.

Mr Johns Sarg ist rot. Irgendwie passt das besser. Er ist prächtig verziert und war sicher nicht billig. Jeder hat etwas dazugegeben, so wie die gesamte Feier aus den Spenden aller finanziert ist. Drei Mann fassen Mr John unter, weil die Leiche schon weich wird und einknicken könnte, und heben ihn in den neuen Sarg.

Die Zeit von der Aufbewahrung bis zur Verbrennung kann unterschiedlich lang sein. Das hängt vom gesellschaftlichen Stand und von der Würde des Betroffenen ab. Beim Durchschnittsthai beträgt sie 7 Tage. Bei den Ärmeren, mit nur wenigen Verwandten, nur 3 oder 5 Tage … In dieser Zeit wird der Leichnam mit verwesungshemmendem Formalin behandelt. Alternativ dazu wird auch tiefgekühlt.

Unter diesen Absatz hatte Peter notiert: Sieben Tage locker übertroffen!

Jeder Trauergast überreicht einem Familienangehörigen Geld in einem weißen Kuvert, auf dem der Name des Gebers steht. Das Geld gilt als Opfergabe für die Mönche und ist ein Beitrag für die Kosten der Totenfeier.

Entfällt! Schon geschehen.

Einige Gäste bringen einen Blumenkranz mit, andere überreichen Schnittblumen in einer Vase. Dekoriert wird mit schwarzen Schleifen und einer Visitenkarte.

Die meisten der Anwesenden bewegen sich gemessen zu einem Tisch im Hintergrund, auf dem die Blumengebinde liegen, und drapieren sie dann um den Toten.

Mit drei Räucherstäbchen betet der Trauernde nach der Opferabgabe vor Buddhas Altar. In diesem Zusammenhang sollte noch erwähnt werden, dass Buddha als heiliger Lehrer zur Erleuchtung angesehen wird, nicht als Gott. Danach erweist der Gast dem Verstorbenen vor dessen Sarg seinen Respekt. Er legt ein Räucherstäbchen in seine zusammengelegten Hände und wünscht dem Verstorbenen alles Gute für sein nächstes Leben.

Also tut auch Peter.

Früher wurde die Predigt mehrere Stunden lang zelebriert und in Palisprache gesungen. Heute wird fast in allen Tempeln in thailändischer Sprache gepredigt. Dies dauert nur eine Stunde. Der Inhalt der Predigt ist etwa, dass das Sterben eine normale Begebenheit ist. Die Natur hat es so geregelt, dass alle Dinge ihren Zeitablauf haben. Der Mensch soll sich deshalb nicht zu sehr an alte Gewohnheiten hängen und sich auch nicht zu fest an sein Eigentum, seinen Ehrentitel, oder an seinen Ruhm klammern. Der Körper verfällt nach dem Tod und wird in den von der Natur vorgesehenen Kreislauf zurückgegeben. »Wie ein Regentropfen, der vom Himmel in den Ozean fällt, der ihn geboren hat.«

Die Predigt wird stark gekürzt. Der Abt des Klosters redet nur zwanzig Minuten, aber die Rede scheint sehr eindrücklich zu sein, denn Eule hat schon wieder Tränen in den Augen, so dass die Brille beschlägt.

(Fortsetzung in Ausgabe FA19/2023)

Über den Autor

Wolfgang Rill wurde in Fulda geboren. Heute lebt er zeitweise wieder dort, vorwiegend aber in Thailand. Seit dreißig Jahren schreibt er Geschichten und veranstaltet Schreibrunden für Interessierte. Seine Bücher sind bei Amazon unter „Wolfgang Rill“ bestellbar oder beim Autor erhältlich. „Alle lieben Mr. John“ ist sein siebter Roman.

Kontakt: wrill@t-online.de

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