ALLE LIEBEN MR JOHN

Fortsetzungsroman von Wolfgang Rill – Teil 28

(Fortsetzung von FA08/2023)

Der Fahrer Heinrich hielt vor den Garagen, stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür für Vater. Schon das war ungewöhnlich, denn sonst stieg der Alte immer selbstständig aus und öffnete für Heinrich sogar das Garagentor. Als Hans nähertrat, sah er, was los war: Vater war total besoffen. L... lasst mich bloß in Ruh, lallte er. Zu allem Überfluss kotzte er in die Blumenrabatte. Heinrich übergab mit halb ironischem, halb genervtem Blick die Ve­rantwortung für seinen Chef, und Hans bugsierte den Alten untergehakt Richtung Bett.

* * *

Tage später:

Dr. Hans Schillner hörte merkwürdige Laute aus dem Hochparterre der Villa. Seine Wohnungstür stand wie gewöhnlich offen, und das breite Treppenhaus wirkte wie ein Hörrohr, in das von unten jemand hineinsprach. Eigentlich waren es keine ungewöhnlichen Laute, es waren menschliche Stimmen. Die Stimmen zweier Männer. Vom Personal war um diese Zeit niemand im Haus. Mutter war wieder irgendwo unterwegs. Das wusste Hans. Er wusste auch, dass Vater so gut wie nie fremde Leute ins Haus brachte. Weder Freunde noch Geschäftsfreunde. Man traf sich in den Verwaltungsräumen der Fabrik, in den Restaurants der Stadt, in Hotellobbys oder neuerdings auch in der Wohnung der Geliebten in Sachsenhausen.

Normalerweise hätte sich Hans nun mit einem englischen Klassiker wie »Tristram Shandy« oder »Pamela« in die Kaminecke zurückgezogen, sich einen Portwein eingeschenkt und den Abend ausklingen lassen. Vielleicht wäre er vorher noch für eine Stunde an den Schreibtisch im Arbeitszimmer verschwunden und hätte eine Proseminarstunde für diese linkischen, einfallslosen Studenten an der Goethe Uni vorbereitet. Irgendetwas an den Stimmen da unten störte ihn heute. Er wollte schon verärgert das Portal zum Treppenhaus schließen, da hörte er einen Gesprächsfetzen der Stimme, die nicht die des Vaters war:

… So sehen Sie das also. Wie einfach! …

Was Vater antwortete, verstand er nicht, weil dessen Stimme merkwürdig gepresst klang.

Hans tappte die Treppe hinunter. Lauschen lag ihm fern, aber er hatte die Eingebung, leise zu sein. Er hockte sich auf die unterste Stufe der Treppe zum Salon. Die beiden im Raum konnten ihn nicht sehen, aber er sah im Wandspiegel immerhin den Besucher von der Seite. Der Mann stand hinter einem Sessel der Sitzgruppe, während Vater auf dem Sofa saß. Dazwischen der eichene Couchtisch. Mit einer Hand stützte sich der fremde Mann auf der Lehne ab, mit der anderen fuchtelte er beim Reden in der Luft herum.

… Versuchen Sie es doch, sagte der Vater mit bitterem Sarkasmus. Ich denke, Sie haben es schon eine Weile versucht. Ich habe ja schon Maßnahmen ergreifen müssen.

Du gehst mir auf die Nerven, presste der andere hervor und schüttelte die Faust. Er mochte in den Dreißigern sein, vielleicht auch erst Ende zwanzig, wie Hans selbst. Ich hätte so gern von dir gehört, wie es wirklich war. Hast du sie gehabt oder nicht? Und falls ja, mit Gewalt? Und wie war sie? Wie hat sie sich gewehrt? Hat sie getreten, gebissen? Hat sie dich als das bezeichnet, was du bist: brutale, skrupellose Sau!

Der Mann war immer lauter geworden. Das letzte hatte er geschrien.

Mäßigen Sie sich bitte, sagte Vater. Sie sind hier in meinem Haus. Gleich kann jemand kommen und Sie von hier entfernen.

Es ist niemand da, das weiß ich, außerdem wäre mir das egal. Dein Sohn ist in der Uni, der Fahrer wohnt im Gartenhaus, und das Hausmädchen ist schon gegangen.

Sie kennen sich aus.

Man plant ein wenig, bevor man einen Mord begeht.

Was begeht?

Du hast richtig gehört. Ich habe nicht viel zu verlieren. Und ich werde mildernde Umstände kriegen, wenn im Prozess ans Licht kommt, was du Schwein uns angetan hast. Zum Prozess muss es kommen. Ich habe es anders probiert, auf dem sogenannten legalen, juristischen Weg. Anders geht’s nicht. Ihr Altnazis schützt euch immer noch gegenseitig. In euren Bunker kommt keiner rein. Bei den letzten Worten zog der Mann eine Pistole aus der Tasche. Es war eine alte 08 aus dem letzten Krieg. Ohne weitere Worte schoss er dem Vater eine Kugel ins Knie.

Der Vater bäumte sich auf dem Sofa auf, presste die Hände auf das Bein über der verletzten Kniescheibe, starrte fassungslos auf das Blut. Verdammt, das tut weh, keuchte er.

Nun, wie war sie?, fragte der Mann ungerührt. Denk daran, dass du zwei Kniescheiben hast. Vielleicht lasse ich dich doch noch am Leben. Und dann könntest du weiterhin wenigstens durch deine Tage humpeln.

Sie war … Sie war aufregend! Sie hat sich nicht gewehrt. Es hat ihr Spaß gemacht. Der Vater kämpfte offenbar gegen eine Ohnmacht. Er stammelte die Worte hervor.

Lügst du mich an? Mieses Schwein!

Ein zweiter Schuss krachte. Er ging dem Vater am Oberarm vorbei in die Sofalehne.

Die Reaktion von Hans war ein Reflex. Er wurde sich erst nachher darüber klar, was er getan hatte. War es schon vorher oder erst als der zweite Knall verhallt war? Er war die paar Schritte bis zum großen Kamin an der Rückfront des Salons gestürzt. Da hingen die Schürhaken, Schmiedeeisen, an einem Tablett. Hans riss eine der etwa einen Meter langen spitzen Eisenstangen von der Wand und raste zurück Richtung Sofa. Obwohl dicke Teppiche die Schritte dämpften, hatte der Mann etwas gehört. Er drehte sich um, noch in der Drehung traf ihn der Speer mit Wucht in die linke Brust.

Diesen Blick wird Hans nie vergessen. Erstaunen, Wut, aber dann plötzlich mildes Bedauern und fast etwas wie Selbstironie. Mühsam versuchte der Mann noch mal die Pistole zu heben, diesmal Richtung Hans. Dann versagten wohl Herz und Hirn. Er klappte seitlich über die Sessellehne. Die Eisenstange in seiner Brust verhakte sich am Sesselrahmen, so dass der Körper sich seltsam verdrehte.

(Fortsetzung in Ausgabe FA10/2023)

Über den Autor

Wolfgang Rill wurde in Fulda geboren. Heute lebt er zeitweise wieder dort, vorwiegend aber in Thailand. Seit dreißig Jahren schreibt er Geschichten und veranstaltet Schreibrunden für Interessierte. Seine Bücher sind bei Amazon unter „Wolfgang Rill“ bestellbar oder beim Autor erhältlich. „Alle lieben Mr. John“ ist sein siebter Roman.

Kontakt: wrill@t-online.de

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