Frau Eickner war etwas über sechzig, eine runde, gesunde, joviale Person. Eine sogenannte »Frau aus dem Volke« mit dem »Herzen am richtigen Fleck«. Sie war von 1926 bis 1937 Dienstmädchen im Hause Seligman gewesen. Sie saßen in ihrer Küche in Frankfurt Eschborn. Nach anfänglichem Misstrauen und dem üblichen »Lassen Sie doch die alten Geschichten!« und »Was geht Sie das an?« hatte sie ihn zu einem Kaffee mit hochkommen lassen. Sie wohnte im vierten Stock eines schmalen Stadthauses in der Pfingstbrunnenstraße. Unten über das Kopfsteinpflaster rumpelte gedämpft der Verkehr der Autos, von denen es schon wieder recht viele gab.
Sie sind also der Kleine vom Schillner, sagte sie und musterte ihn mit einem rätselhaften und versonnenen Blick.
Warum wollen Sie wissen, wie das damals war?
Hans spürte: Wenn er diese Frau aus der Reserve locken wollte, musste er alles auf eine Karte setzen: Ich habe vor einigen Wochen Ismael Seligman, den letzten Überlebenden der Familie Seligman, umgebracht, sagte er.
Sie meinen, Sie haben …
Ich habe den Mann ermordet. Mit diesen Händen habe ich ihn … Aber so hart war er nicht. Er hatte durch kalte Nüchternheit provozieren wollen, doch das ging daneben. Der letzte Satz erstickte in einem Schluchzen.
…
Die Frau blickte ihn lange an. Sie sah die Tränen in seinen Augen. Ich sollte Sie zum Tempel rauswerfen, egal ob das stimmt oder ob Sie lügen. Aber erzählen Sie!
Er berichtete minutiös von dem Abend, an dem es geschehen war.
Wieder schwieg Frau Eickner zu dieser Sache. Zwischendurch legte sie die Hand auf eine bauchige Kanne mit Zwiebelmuster. Er ist noch warm, murmelte sie. Und: Die ist noch von denen, die Kanne. Ich konnte damals noch ein paar Sachen aus der Villa holen. War gefährlich. Aber ich hab’s gemacht. Habe gedacht, wenn sie mal wiederkommen, sollen sie wenigstens ein paar von ihren alten Sachen wiederhaben. Aber sie kamen nicht wieder. Niemand kam wieder. Sie schenkte ein in Tassen mit dem gleichen blauen Muster. Es war Bohnenkaffee, obwohl sie ihn aus alter Gewohnheit »Muckefuck« nannte.
Das ist mir alles ein bisschen viel, fuhr sie fort. Sie sagen, Sie haben den einzigen Menschen umgebracht, der noch übrig war aus der Familie? Die war mir damals so lieb wie meine eigenen Eltern, oder noch lieber. Ich war ein Teil von denen. Die haben mich nie spüren lassen, dass ich das Dienstmädchen war und sie die reichen Leute oder dass ich die Deutsche war und sie die Juden. Wir waren … ach, was rede ich da. Ich habe versucht, das alles zu vergessen. Und jetzt sitzen Sie hier, sitzen an meinem Tisch. Und jetzt kommt das durch Sie alles wieder hoch. Und Sie haben Ihren Vater verteidigt, vielleicht sein Leben gerettet. Und so etwas muss man als Sohn doch tun. Und ich kann Ihnen nicht mal böse sein, wenn es wirklich so war, wie Sie erzählen. Und, und und … Bitte gehen Sie! Gehen Sie jetzt und lassen Sie mich allein. Aber kommen Sie wieder!
Er war gegangen und am nächsten Abend wiedergekommen. Sie hatte sich gefasst, und dann hatte sie zu berichten begonnen. Diesmal saßen sie in ihrem kleinen Wohnzimmer unter einer Stehlampe mit Troddeln und Quasten. Die Fenster nach hinten raus, wo ein paar Gärten lagen und in der Ferne ein paar Schornsteine in den Himmel ragten.
Sie werden Ihren Vater vielleicht nicht mehr mögen, wenn ich Ihnen alles erzählt habe. So begann sie.
Das ist mir egal, hatte er geantwortet. Ich mag ihn bereits jetzt nicht mehr besonders. Erzählen Sie. Bitte!
Es wurde ein langer Abend. Nach einer Weile holte Frau Eickner eine Flasche Portwein aus ihrem Kühlschrank. Ich mag ab und zu ein Gläschen von dem süßen Zeug, aber es muss kühl sein. Hoffe, Sie mögen’s auch. Er süffelte bisweilen am Glas, während das ehemalige Dienstmädchen, das schon lange kein Mädchen mehr war, berichtete. Sie verlor sich in Einzelheiten und Nebensächlichkeiten. Aber was Hans als Hauptlinie heraushörte, war frappierend. Sein Vater, sein so solider und seriöser Papa, hatte damals dem siebzehnjährigen Mädchen namens Leila Seligman nachgestellt. Er war verliebt bis zur Raserei, flocht Frau Eickner an einer Stelle ein. Es war in den Jahren vor 1937. Hans kam gerade auf die Welt. Seine Eltern waren schon verheiratet. Mutter war selbst noch eine junge Schönheit, aber für Georg Schillner musste es ein blutjunges Ding sein, ein halbes Kind wie Leila, mit einer erotischen Ausstrahlung, die Eisberge zum Schmelzen bringen konnte. Anfangs hatte sie mit ihm gespielt, nicht er mit ihr. Kennengelernt hatten sie sich, als Georg einmal persönlich einen Posten Aktenordner und Kladden für die Bilanzen aus seinem Lager für Büromaterialien in die Drahtfabrik brachte. Kommen Sie doch mal zu uns zum Essen, hatte der alte Seligman unvorsichtigerweise gesagt. Sie hatten sich im Büro nach Feierabend verplaudert. Und als das Mädchen eben hereinkam, um Vater nach Hause zu begleiten: Das ist übrigens meine Tochter Leila. Leila, gib dem Herrn die Hand, das ist unser Geschäftsfreund und Lieferant Herr Schillner. Leila war damals vierzehn. Aufgeweckt, frisch, grazil, mit blitzenden Äuglein. Ihre Wirkung auf Schillner war etwa so, wie Nabokov in seinem berühmten Roman die Wirkung der kleinen Lolita auf Humbert beschrieben hat.
Georg Schillner tat danach alles dafür, dass es nicht nur bei einem geselligen Abendessen in Seligmans Villa blieb. Man verabredete sich zum Golf im Taunus, man machte an einem Sonntag eine Schiffstour auf dem Rhein an der Loreley vorbei. Frau Schillner war leider immer verhindert. Vom kleinen Sohn war nie die Rede. Großer Wert wurde aber darauf gelegt, dass Leila bei allen Ausflügen dabei war.
Wie kam es, dass Vater Seligman nicht gerochen hatte, was für ein Kuckucksei er sich mit Schillner ins Nest gelegt hatte? Nun, man schrieb das Jahr 1934.
(Fortsetzung in Ausgabe FA13/2023)Über den Autor
Wolfgang Rill wurde in Fulda geboren. Heute lebt er zeitweise wieder dort, vorwiegend aber in Thailand. Seit dreißig Jahren schreibt er Geschichten und veranstaltet Schreibrunden für Interessierte. Seine Bücher sind bei Amazon unter „Wolfgang Rill“ bestellbar oder beim Autor erhältlich. „Alle lieben Mr. John“ ist sein siebter Roman.
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