ALLE LIEBEN MR JOHN

Fortsetzungsroman von Wolfgang Rill – Teil 29

(Fortsetzung von FA09/2023)

Eindeutig Notwehr, flüsterte der Vater noch. Dann setzten bei ihm die starken Schmerzen ein. Er presste immer noch die Hände um den Oberschenkel über dem zerschossenen Knie zusammen und verlor das Bewusstsein.

* * *

Es gibt keine ausreichende Grundlage, Sie festzunehmen, hatte der leitende Kommissar gesagt, aber halten Sie sich zu unserer Verfügung. Verlassen Sie die Stadt nicht. Das war vor zwei Tagen, nachdem die Spurensicherung da gewesen war, ein Krankenwagen ebenfalls und natürlich einige Polizisten. Journalisten waren zum Glück nicht am Tatort aufgetaucht.

Ihr Vater ist ein geachteter und verdienter Mitbürger, sagte der Kommissar. Wir sind geneigt, Ihrer Darstellung des Vorgangs zu glauben. Die letzte Entscheidung werden aber Richter und Staatsanwalt fällen. Alles spricht für Notwehr: Die schwere Verletzung Ihres Vaters, der zweite Schuss, der in die Sofalehne ging, die Abstände zwischen den Personen und schließlich die Sache mit dem Schürhaken. Haben Sie in der Richtung übrigens mal einen Sport betrieben?

Ich war als junger Student auf Anraten meines Vaters für eine Weile auf dem Paukboden der Arminia. Hatte mich damals für Säbel entschieden.

Sind Sie heute noch dabei?

Gott bewahre! Vielleicht wissen Sie nicht, was das für ein Verein ist.

Ehre, Freiheit, Vaterland!, ist der Wahlspruch, antwortet der Kommissar. Ich kenne die Arminia sehr wohl. Was ist daran auszusetzen?

Hans lehnte sich zurück hier im kahlen Verhörraum des alten Polizeipräsidiums am Platz der Republik. Er war sich jetzt sicher, woran er mit diesem Kommissar war. Der Mann war an die sechzig. Was haben Sie so vor zwanzig Jahren gemacht? Die Frage lag ihm auf der Zunge. Aber er fragte nicht. Dieser Kommissar war einer der vielen Übriggebliebenen, der Unter- und wieder Aufgetauchten. Einer, der zwei, drei Jahre nach dem Krieg mit einem Blatt gewedelt hatte und gerufen hatte: Persil, Persil!

Anfangs dachte ich mir nichts dabei, in der Verbindung zu sein, zumal Vater auch dabei gewesen war. Aber dann entfernte ich mich innerlich davon und damit auch von meinem Vater, wenn Sie es genau wissen wollen.

Nun jedenfalls, für Sie und erst recht natürlich für Ihren Vater werden keine weiteren Unannehmlichkeiten folgen. Was fällt diesem Herrn auch ein, einfach in ein fremdes Haus einzudringen, mit der Waffe zu drohen und sogar zu schießen? Selber schuld, sage ich da.

Ich würde gern etwas mehr über den Menschen erfahren, den ich umgebracht habe, murmelte Hans. Wer war er? Was war sein Motiv?

Der Polizist, eben noch herzlich und zugewandt, versteifte sich. Das fällt nicht in mein Ressort, sagte er. Dann gab er immerhin preis: Sein Name war Ismael Seligman. Englischer Staatsbürger. Letzteres kann zu Verwicklungen mit unserer Besatzungsmacht führen, aber keine Angst, wir haben ein gutes Verhältnis zu denen. Für Sekunden war der Kommissar wieder in den alten jovialen Ton zurückgekehrt. Dann fiel ihm ein, dass der junge Schillner sich irgendwie kritisch verhielt. Solche kritischen Köpfe traf man jetzt mehr und mehr. Hatte man es nicht schwer genug gehabt? Musste man sich jetzt noch von den eigenen Söhnen Vorhaltungen machen lassen? Also Vorsicht!, sagte sich der Kommissar, und sehr förmlich antwortete er: Über die Motive soll auf höhere Anweisung hin Stillschweigen bewahrt werden, um die Ermittlungen nicht zu behindern.

Hans versuchte noch eine Weile, Informationen über Ismael Seligman aus dem Kommissar herauszulocken, doch der Mann war Beton. Seien Sie froh, dass die Angelegenheit für Sie ausgestanden ist, und wühlen Sie nicht noch herum. Und grüßen Sie Ihren Vater im Krankenhaus.

Als er wieder auf die belebte Straße trat, spürte Hans, dass in ihm etwas sehr angespannt war und zu reißen drohte. Er setzte sich in ein Café an einen einsamen Tisch am Fenster zur Straße und starrte hinaus. Eigentlich hätte er in einer Stunde ein Proseminar abzuhalten. English prepositions. Er ging zur Theke, bat um das Telefon und sagte im Sekretariat ab. Krankheitsgründe.

Er trank Wein, viel Wein. Rheinhessen war ja nicht weit von hier. Er starrte hinaus. Jetzt einfach zur Tagesordnung übergehen? An der Uni weitermachen? Vielleicht wird irgendwann eine Professur frei? Den Sohn aufziehen, die Mutter, Susanne, endlich heiraten? Aus der Villa ausziehen, ein Haus bauen? Irgendwann in Jahren mal Vaters Erbe antreten, Fabrikbesitzer werden?

War das der Weg?

Hans spürte, dass das nicht der Weg war. Nicht mehr, seit der Speer getroffen hatte. Du wirst rauskriegen, was hinter der Sache steckt. Du ahnst es schon, sagte er zu sich selbst. War er beim dritten Glas oder schon beim vierten? Er trank öfter mal. Auch viel. Aber so viel am frühen Nachmittag, das war ungewohnt. Und dann wirst du gehen. So sprach Hans zu sich an dem kleinen, runden Marmortisch im Café Thiele in der Straße Unter dem Heiligen Kreuz in Frankfurt am Main. Im umnebelten Hirn wurde ihm das zum unumstößlichen Beschluss. Weggehen! Aus allem aussteigen! In einem Alter, in dem andere sich im Leben etablieren und Wurzeln schlagen war Hans für den Moment fest entschlossen, sich zu entwurzeln. Er war nie ein übertrieben moralischer Mensch. Er war selbst kein Heiliger. Er war Vater, aber heiraten wollte er nicht. Er trank gern einen über den Durst und verkraftete das. Er konnte Rückschläge einstecken und verlor nicht so leicht den Mut. Er konnte arbeiten. Er war kein Phantast, und er war nicht labil. Nur war sein ganzes bisheriges Leben verkehrt. Die Villa, in der er groß geworden war, die Fabrik, der ganze verfluchte Wohlstand, die Ausbildung, die Ziele, alles. Es gibt kein wahres Leben im Falschen, diesen Satz des berühmten Adorno, der jetzt ganz in der Nähe im Institut für Sozialforschung lehrte, hatte Hans im mittlerweile besoffenen Kopf.

(Fortsetzung in Ausgabe FA11/2023)

Über den Autor

Wolfgang Rill wurde in Fulda geboren. Heute lebt er zeitweise wieder dort, vorwiegend aber in Thailand. Seit dreißig Jahren schreibt er Geschichten und veranstaltet Schreibrunden für Interessierte. Seine Bücher sind bei Amazon unter „Wolfgang Rill“ bestellbar oder beim Autor erhältlich. „Alle lieben Mr. John“ ist sein siebter Roman.

Kontakt: wrill@t-online.de

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