ALLE LIEBEN MR JOHN

Fortsetzungsroman von Wolfgang Rill – Teil 33

(Fortsetzung von FA13/2023)

Und nun ade! Auf Wiedersehen mochte er nicht sagen.

Der Vater war tief getroffen von dieser Abkehr seines Sohnes. Er fing sich aber bald wieder. Schon als er das Krankenhaus verließ und erste Gehversuche mit dem steifen Bein machte, sagte er sich, dass das Leben ja weitergehen müsse und dass er sich, bei Licht besehen, gar nichts vorzuwerfen habe. Die Zeitläufte waren schuld, hauptsächlich die Zeitläufte. Lange Jahre leitete er noch die Fabrik, bis er drohte, gebrechlich zu werden. Da verkaufte er das immer noch florierende Unternehmen. Die Bitte seines Sohnes hat er auf eigene Art erfüllt. Er überwies nicht, wie erbeten, jeden Monat zweihundert Mark, sondern er zahlte bald nach dem Verschwinden von Hans dort eine Viertelmillion Mark ein. Dieses Konto war die einzige Verbindung, die er zu Hans noch hatte, wie er glaubte. Und Geld korrumpiert, das wussten nur wenige besser als er. Vielleicht könnte die Riesensumme auch seinen Hans irgendwie dazu bewegen, zurückzukommen. Deswegen fragte er alle paar Wochen in der Bank nach, ob etwas abgehoben worden sei. Nein, sagte man regelmäßig, nichts.

Die Mutter war inzwischen gestorben, die frühe Liebe Susanne mit dem Kind hatte Georg Schillner aus den Augen verloren. Er wollte da auch keinen Kontakt. Man würde nur blöde Fragen stellen. Bevor er das Zeitliche segnete, zahlte der alte Schillner einen großen Teil der Summe aus dem Verkauf der Fabrik auf das Konto seines Sohnes ein, das immer noch existierte. Nie war etwas abgehoben worden. Der letzten Geliebten gab er etwas, auch einige Verwandte und verdiente ehemalige Mitarbeiter speiste er mit mittleren Summen ab, aber der Löwenanteil ging an Hans, sein eigen Fleisch und Blut. Rechtsanwalt Dr. Stark machte das Testament für ihn gerichtsfest. Normalerweise werden solche Summen diversifiziert, riet er dem alten Schillner. Ein Teil in Aktien, ein Teil in Anleihen, ein Teil in Immobilien und so weiter. Nichts da, hatte der Alte verfügt, alles auf ein Konto! Die Zinsen sind mir egal. Für meinen Jungen soll es übersichtlich bleiben. Etwas hatte in ihm gewühlt, seit Hans verschwunden war. Die Geldübergabe linderte den Schmerz. Er war die meiste Zeit informiert gewesen, wo in der Welt Hans gerade steckte. Detektive und Behörden hatten dafür gesorgt. Aber vor einer Kontaktaufnahme war der Vater immer zurückgeschreckt. Warum war der Hans nur so verdammt empfindlich gewesen? Was er, Georg, damals mit der Judenbrut gemacht hatte, hatten doch alle gemacht. Wenn nicht er, dann andere. Verloren waren die sowieso. Da musste man doch kein schlechtes Gewissen haben, verdammt noch mal! Zu verantworten hatten das andere. Einige davon lebten noch, er kannte sie, in Frankfurt und anderswo, zum Beispiel in Argentinien. Aber manchmal, wenn er nicht aufpasste und an seinen verschwundenen Sohn dachte, kam ihm der Satz in den Sinn: Vielleicht ist das die Strafe für mich. Unsinn, sagte er dann zu sich selbst, reiß dich am Riemen, Mann!

So kam es, dass Dr. Hans Schillner, inzwischen selbst ein alter Mann und in einem fernen Land Mr John genannt, bei seinem Tod im Bus von Bangkok nach Khon Kaen Inhaber eines Kontos von rund siebzehn Millionen Euro war, sowie Besitzer einer großbürgerlichen Villa im Frankfurter Westend, welche die Abrisswut der sechziger und siebziger Jahre überstanden hatte und welche von einer renommierten Frankfurter Hausverwaltung gemanagt wurde.

* * *

Wie war es mit Hans weitergegangen, als er das heimatliche Frankfurt für immer verließ? Und war der legitime Erbe des Vermögens nicht der Sohn Stefan, den er 1958 mit Susanne Kasper gezeugt hatte? Vor diesen Fragen stand Dr. Stark in Frankfurt, als er vom zuständigen Amtsgericht über das Ableben von Dr. Hans Schillner alias Mr John unterrichtet wurde.

Dr. Stark, selbst schon an die Siebzig, hatte Jahre vor dem Tod des Vaters Georg Schillner dessen private juristische Angelegenheiten übernommen und mehr und mehr das Vertrauen des alten Mannes gewonnen. Er residierte in einem Altbau nahe des Bankenviertels, und die letzten Jahre kümmerte er sich nur noch um seine Stammkunden und deren Belange. Neue Klienten nahm er nicht mehr an. Die treuhänderische Verwaltung der Schillner-Konten und nun auch die Regelung der Erbschaftssache, soweit diese nicht dem Amtsgericht oblag, fielen in sein Ressort.

Die Erbschaftsangelegenheit ließ sich zunächst einfach an. Der Sohn Stefan wurde ausfindig gemacht und informiert, dass eine größere Erbschaft auf ihn warte. Man müsse nur eine Frist einhalten, um abzuwarten, ob sich weitere Erben melden würden.

Leider taten sie das. Kleckerweise trudelten sie ein. Zum Schluss war Dr. Hans Schillner mit sechs leiblichen Erben konfrontiert. Und alle hatten ernstzunehmende Erbschaftszusagen, man kann auch sagen Testamente, vorzuweisen. Zum großen Teil wurden sie von ihren Müttern begleitet, als sie sich in Frankfurt versammelten. Das machte Herrn Dr. Stark doch zu schaffen. Ein Glück war allerdings, dass es zunächst keine Widersprüche gab. Die sechs betrachteten sich gegenseitig, als sie sich in Frankfurt trafen, drei Mädchen, drei Jungen, und nickten mit den Köpfen. Ja, könnte sein, dass der oder die auch von ihm ist, nach allem, was ich noch weiß und was mir Mutter erzählt hat. Die Verständigung war etwas mühsam, denn die sechs hatten vier verschiedene Muttersprachen. Englisch beherrschten alle mehr oder weniger gut.

Rechtsanwalt und Notar Dr. Stark hatte den Eindruck, Hans Schillner sei auf seinem Lebensweg einem bestimmten Muster gefolgt. Er hatte offenbar in jedem Lebensjahrzehnt bis ins Alter von sechzig Jahren ein Kind gezeugt. Einmal wurden daraus zwei, denn es kamen Zwillinge. Noch dazu hatte Hans jedes der Kinder auf einem anderen Kontinent in die Welt gesetzt.

Mr John war, wie gesagt, als er Frankfurt verließ, gerade mal achtundzwanzig Jahre alt. Er hatte schon den Doktor in Anglistik und einen Sohn namens Stefan.

(Fortsetzung in Ausgabe FA15/2023)

Über den Autor

Wolfgang Rill wurde in Fulda geboren. Heute lebt er zeitweise wieder dort, vorwiegend aber in Thailand. Seit dreißig Jahren schreibt er Geschichten und veranstaltet Schreibrunden für Interessierte. Seine Bücher sind bei Amazon unter „Wolfgang Rill“ bestellbar oder beim Autor erhältlich. „Alle lieben Mr. John“ ist sein siebter Roman.

Kontakt: wrill@t-online.de

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