3. Teil
Frau Anuthida, die Direktorin, lief aus ihrem Büro raus auf den Schulhof. Später Vormittag. Die Sonne brannte. Sie sah auf das langgestreckte Gebäude mit den Klassenräumen, wie sie das öfter mal tat. Vor den Klassen gab es die offenen Galerien, von denen aus man in die Räume kam. Schulgeräusche kitzelten ihr Ohr. Unten links wurde gesungen. Oben in der Mitte ging es laut zu. Da konnte sich ein Kollege offenbar nicht durchsetzen. In den Klassen rechts oben war es ganz still. Die schrieben offenbar einen Test, vielleicht in Englisch. Nach alter Gewohnheit ging sie näher an das Gebäude heran, dort wo im ersten Stock Mr Johns Klasse gewesen war.
Müssen Sie auch noch so oft an ihn denken? Es war Eule, die hinter sie getreten war.
Ja, sagte die Direktorin versonnen.
Er soll immer noch in Khon Kaen im Eisschrank liegen.
Das ist unwürdig, sagte die Direktorin. Es sind jetzt schon drei Jahre.
Mein Peter wird mich demnächst heiraten, sagte Eule. Wir werden nach London gehen.
Schön für Sie, sagte die Direktorin.
Meinen Sie nicht, wir sollten vorher noch eine Sache erledigen?
Der Bürgermeister schenkte schon lange den Kopien aus Khong Kaen kaum noch Beachtung. Es gab offenbar im fernen Germany ein Gezerre um die Erbschaft des Mr John. Und solange die nicht entschieden war, wusste auch niemand, was mit der Leiche geschehen sollte. Die Klinik wartete wohl immer noch auf ihr Geld. Ein Anruf der Schuldirektorin weckte sein Interesse neu. Wir halten ein vertrauliches Treffen im Hotel ab, im klimatisierten Konferenzzimmer. Es geht um Mr John. So geht es nicht weiter. Bitte kommen Sie.
Er kam. Auch Eule kam und natürlich die Direktorin. Außerdem waren Khun Nes, der Sportlehrer, da und Frau Kim, Johns ehemalige Haushälterin, die irgendwie von diesem Treffen erfahren hatte. Sie hatte eine alte Fotografie von Mr John mitgebracht. Die zeigte den Alten umringt von einer Traube Schüler auf dem Boden in seinem Klassenraum sitzend. Die Kinder hingen an seinen Lippen, das sah man auf dem Foto.
Alle waren sich einig, dass es so nicht weiterginge. Es war eine Schande für die Schule und für alle, denen der alte Mann Gutes getan hatte, dass die Leiche nun schon im dritten Jahr in Khon Kaen im Kühlschrank lag. Immer diese Kälte, furchtbar, da wird man ja von der Eule zum Schneehuhn. Eule versuchte mit dieser Bemerkung die traurige Stimmung aufzulockern, aber niemand stieg darauf ein.
Wir nehmen von nun an die Sache in die Hand, verkündete der Bürgermeister. Ich weiß auch schon, wie.
Nachdem der Bürgermeister erklärt hatte, wie, gab es kaum Einwände. Alle stimmten zu und man ging dazu über, die praktische Seite der Angelegenheit zu besprechen. Es gab zwei große Aufgaben: einmal die Beschaffung der Leiche und zum anderen die Organisation der Trauerfeier. Beim ersten Teil übernahm der Bürgermeister die Oberleitung, assistiert von Khun Nes, den zweiten Teil leitete Anuthida, unterstützt von Eule und Frau Kim.
Schon eine Woche später fährt zu nachtschlafender Zeit ein Pickup mit geschlossener Ladefläche auf den Parkplatz der Prachotruek Klinik in Khon Kaen. Der Mond hinter Wolken, nur manchmal ein wenig fahles Licht. Stille ringsum, die Stadt schläft. Drei Gestalten in dunklen Hosen und T-Shirts steuern einen Hinterausgang der Klinik an. Sie klopfen leise. Die Tür wird von innen geöffnet. Dahinter im schwach erleuchteten Gang schon eine Bahre auf Rädern. Kurzes Getuschel, dann schieben die drei die Bahre, auf der ein länglicher Gegenstand unter einem weißen Tuch liegt, über das löchrige Pflaster zum Pick-up. Der Gegenstand ist Mr John, der, steif wie er ist, im Pick-up in einen schlichten Holzsarg geschoben wird. Deckel drauf und los geht’s.
Mr John besuchte ein letztes Mal das Städtchen Phung Daet. Er steuerte hier aber nicht die kleine Soi an, in der er gewohnt hatte und wo Frau Kim immer noch lebte, sondern er fuhr geradeaus durch den Ort hindurch. Genauer gesagt wurde er gefahren. Es ging noch etwa dreißig Kilometer weiter. Dann Abbiegen in einen ungepflasterten Weg, der zu einem spitz aufragenden Hügel führte. Auf der Hügelkuppe die Pagodenspitze eines Klosterbaus, eines Wats.
Es war kurz vor Sonnenaufgang, als der Pick-up den Hügel erklomm und auf dem Hof des Klosters hielt. Einige Mönche waren schon auf den Beinen und schleppten Holz für das Feuer. Neben der großen goldgeschmückten Pagode ein kleinerer Langbau mit einem Schornstein. Der rauchte schon verhalten. Der Abt des Klosters und zwei seiner Mönche begrüßten die Ankommenden. Gemeinsam ging man rüber zu einer offenen Halle. Offenbar das Empfangsbüro und die Cafeteria des Klosters in einem. Hier wartete ein kleines Grüppchen. Es waren fast alle da: Der Bürgermeister war da und natürlich Anuthida, die Direktorin. Sie hatte noch zwei ihrer Lehrer mitgebracht, die Mr John gemocht hatten und denen man vertrauen konnte. Neben ihr standen Eule und Khun Nes, und zur Freude aller war auch Peter aus Bangkok anwesend. Er war die Nacht durchgefahren und gerade eben eingetroffen. Frau Kim mit einem Strahlen im alten Gesicht war auch da, und sogar der dicke Polizeichef hatte es sich nicht nehmen lassen zu erscheinen. Die schöne Phoo war informiert worden, hatte es aber aus Deutschland nicht rechtzeitig hergeschafft. Ihr Zahnarzt Max hatte mal wieder Geld gebraucht, daher arbeitete er für ein paar Monate in Berlin und hatte sie mitgenommen. Eine andere Ehe, die Mr John gestiftet hatte, war vollzählig vertreten: die ehemalige Schülerin Namtip, ihr Mann Jacques aus Frankreich und ihrer beider Töchterchen Elena, ein Jahr alt. Auch die drei Transporteure blieben da. Es waren Gemeindearbeiter, die sich um die Blumenrabatten vor der City Hall, um Reparaturen an Gehwegen und Elektromasten kümmerten und die natürlich auch für Leichentransporte zuständig waren.
(Fortsetzung in Ausgabe FA18/2023)Über den Autor
Wolfgang Rill wurde in Fulda geboren. Heute lebt er zeitweise wieder dort, vorwiegend aber in Thailand. Seit dreißig Jahren schreibt er Geschichten und veranstaltet Schreibrunden für Interessierte. Seine Bücher sind bei Amazon unter „Wolfgang Rill“ bestellbar oder beim Autor erhältlich. „Alle lieben Mr. John“ ist sein siebter Roman.
Kontakt: wrill@t-online.de