ALLE LIEBEN MR JOHN

Fortsetzungsroman von Wolfgang Rill – Teil 30

(Fortsetzung von FA10/2023)

Am nächsten Nachmittag, wieder einigermaßen nüchtern, stand der Besuch beim Vater an. Klinik erster Klasse. Einzelzimmer, Chefarztbetreuung, Telefon am Bett. Das Bein in Gips aufgehängt an einem Bettgalgen. Sie mussten es versteifen, sagte der Vater. Ich werde in Zukunft humpeln. Aber dank dir wird es überhaupt eine Zukunft geben.

Hans wenig gesprächig, ernst, versonnen, fast unfreundlich.

Was hat der Mann gewollt? Wollte er dich wirklich umbringen? Und wenn ja, warum?

Nun waren sie heraus, die Fragen, um die es ging.

Doch dem Vater ging es eindeutig nicht um diese Fragen, geschweige denn um Antworten. Er wand sich, er eierte herum. Ach, das sind alte Geschichten. Glaub mir, es ist besser, wenn du davon nicht viel weißt. Ich glaube, du willst es gar nicht wirklich wissen. Hans spürte eine Wut in sich aufwallen. Am liebsten hätte er den Vater geschüttelt und gewürgt. Aber das ging in dessen Zustand natürlich nicht. Außerdem kam gerade eine Schwester ins Zimmer und mahnte, dass der Patient so kurz nach der Operation noch wenig belastbar sei. Hans solle den Besuch doch bitte abkürzen.

* * *

Dr. Hans Schillner gab nicht nach. Er besuchte Leute, die etwas wissen mussten, er wühlte in Archiven, er reiste nach England auf den Spuren von Ismael Seligman, er vernachlässigte seine Arbeit. Meist stieß er bei den Zeitzeugen auf Skepsis, oft auf Ablehnung. Lassen Sie doch die Dinge ruhen. Was soll das Wühlen im Dreck? Hören Sie damit auf, es ist zu Ihrem eigenen Nutzen. In England bei Ismaels Pflegeeltern war man besonders ungehalten:

Wie ist Ihr Name? Schillner? Schillner aus Frankfurt? Verschwinden Sie!

Susanne besuchte ihn noch. Irgendwas ist los mit dir. Du nimmst auch immer mehr ab. Isst du nicht richtig? Ich kenne dich kaum wieder, sagte sie. Was quält dich denn so? Kann ich dir helfen?

Er brauchte vier Monate, bis er die wichtigsten Details zusammen hatte. In dieser Zeit benachrichtigte ihn die Staatsanwaltschaft per Brief von der Niederschlagung des Verfahrens gegen ihn, und von der Uni kam die Mahnung, seine Lehrtätigkeit etwas ernster zu nehmen. Beschwerden von Studenten über ausgefallene Seminartermine lägen vor. Man sei bereit, Herrn Dr. Schillner falls erforderlich ein oder zwei Studiensemester zu gewähren.

Was die Drahtfabrik betraf, waren die Fakten relativ leicht herauszubekommen: Sie hatte in der zweiten Generation der Familie Seligman gehört, die seit 1912 in der Villa im Westend residiert hatte. Vater Seligman galt als fähiger Unternehmer. Seine Frau arbeitete im Büro mit. Im Jahr 1940 wurde die Fabrik vom Frankfurter Geschäftsmann Georg Schillner übernommen, der, wie bekannt, bis dahin auf der Zeil einen Laden für Bürobedarf betrieben hatte. Der Verkauf war legal, die eingetragene Kaufsumme zwar niedrig, doch immerhin noch so hoch, dass man nicht von Nötigung oder Unlauterkeit sprechen konnte. Zuerst war die Fabrik verkauft worden. Fünf Monate später auch die Villa. Die allerdings zu einem Spottpreis. Alle Eintragungen in Grundbüchern und im Handelsregister waren korrekt. Nach dem Auszug aus der Villa hatten die Seligmans noch eine Weile in einem Landhaus bei Bad Vilbel gewohnt. Dann verlor sich ihre Spur bis zum 19. Oktober 1941. An diesem Tag tauchte der Name Seligman in einer Transportliste auf, die sich erhalten hatte. Es war die erste dieser Transportlisten. Die Rede war von Isaak Seligman, dem Vater, von Sarah Seligman, geborene Vaterland, der Mutter und von Leila, nunmehr ebenfalls Sarah, der Tochter. Vater Seligman hatte Ende 1937 gegenüber Bekannten Auswanderungspläne geäußert. Er wollte nach England, wo er entfernte Verwandte hatte. Doch dort war er nie angekommen.

Hans hatte genügend Kenntnisse über die jüngere Vergangenheit, um sich denken zu können, was passiert war. Sein Vater musste die Firmenübernahme damals vehement betrieben haben, denn sicher gab es noch andere Interessenten, die den fetten Braten wollten. Was würde es nützen, dem Alten darüber Vorhaltungen zu machen? Hans würde nur das Übliche zu hören bekommen: Du warst noch klein, du kannst nicht wissen, wie das damals war. Oder: Was hätte ich denn tun sollen? Dem Seligman gegenüber habe ich mich immer korrekt verhalten. Andere wären ganz anders mit ihm umgesprungen, und schließlich habe ich ihm einen fairen Preis gezahlt. Eigentlich kann er froh sein, dass er an mich geraten ist. Was nachher mit ihm passiert ist, dafür kann ich doch nichts! Das alles mit hochgeschnallten Bein in einem Krankzimmer erster Klasse. Hans kam schon beim Gedanken an diese Worte das Erbrechen.

Aber neben der für damalige Zeiten klassisch verlaufenen sogenannten »Arisierung« musste noch mehr geschehen sein. Was hatte der Mann im Salon der Villa gerufen, bevor er starb? Wie war sie?, hatte er gebrüllt. Verzweifelt. Den Tränen nah. Und mit »sie« hatte er bestimmt nicht die Fabrik gemeint.

Drei Worte. Hans hat sie sich gemerkt. Er wird sie sich immer merken. Er wird diese Stimme immer hören, immer, immer wieder.

Das Weitere, das Hans he­rausfand, gab dem Drama einen weit persönlicheren Charakter als die Recherche in Akten. Wie war Vater überhaupt auf die Idee mit der Fabrik gekommen? Was hatte er mit den Seligmans zu tun gehabt?

Die Antwort hieß Leila. Seligmans Töchterchen, das auf der Transportliste als »Sarah« vermerkt war. Hans hatte trotz aller Mauern, auf die er bei seinen Recherchen stieß, einmal Glück gehabt. Er war auf Sofie Eickner gestoßen.

Mit Frau Eickner erhielt Hans einen Einblick in die menschliche Seite dieser »Arisierung«, die ihn aufwühlte. Er war innerlich auf schlimme Dinge vorbereitet, aber abgebrüht war er nicht. Bisher hatte er diese feindliche Übernahme nur als boshaften geschäftlichen Akt kennengelernt, nun stach sie ihm ins Herz.

(Fortsetzung in Ausgabe FA12/2023)

Über den Autor

Wolfgang Rill wurde in Fulda geboren. Heute lebt er zeitweise wieder dort, vorwiegend aber in Thailand. Seit dreißig Jahren schreibt er Geschichten und veranstaltet Schreibrunden für Interessierte. Seine Bücher sind bei Amazon unter „Wolfgang Rill“ bestellbar oder beim Autor erhältlich. „Alle lieben Mr. John“ ist sein siebter Roman.

Kontakt: wrill@t-online.de

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