ALLE LIEBEN MR JOHN

Fortsetzungsroman von Wolfgang Rill – Teil 27

(Fortsetzung von FA07/2023)

Komm Jungchen, ich zeig dir, wie’s geht. Aber Maul halten!, sagte sie als sie merkte, wie er wochenlang immer faszinierter auf ihre Brüste starrte. Sie zog ihn mit sich in ihre Dienstmädchenkammer unter dem Dach und führte ihn einfühlsam und kenntnisreich ein, in doppeltem Sinne.

So frech sie auch war, so wurde sie doch maulfaul, wenn Hans sie bestimmte Sachen fragte. Er fragte zum Beispiel: Wie lange bist du eigentlich schon bei uns?

Müssen jetzt schon bald fünf Jahre sein, oder sechs, sagte sie.

Er fragte: Hast du eigentlich auch mit Vater … du weißt schon?

Was geht dich das an!, fuhr sie ihn an. Dann aber flüsterte sie ihm kichernd ins Ohr: Dein Alter wollte schon. Aber ich hab’s nicht gemacht.

Wer war dein erster Freund?, fragte Hans. Da funkelte sie ihn böse an und schrie: Frag das nie wieder, hörst du! Und dann weinte sie.

Später, als sie sich beruhigt hatte, fragte er doch. Was bedrückt dich so? Warum weinst du, wenn ich nach deinem ersten Freund frage? Hat er dich verlassen? Liebst du ihn immer noch?

Sie saßen in ihrer Kammer auf dem Bett, sie in Unterwäsche, er in Unterhose. Draußen vor der Dachgaube ein Spatzenpaar, das fleißig an einem Nest unter der Dachrinne arbeitete. Ganz Deutschland ist im Aufbau, sogar die Spatzen machen mit, sagte Hans. Die Eltern wie so oft nicht im Haus. Er streichelte sie. Du musst es nicht sagen, wenn es dich quält, flüsterte er.

Sie sah ihn nicht an, leerer Blick. Dann fasste sie wohl einen Entschluss: Ja, ich glaube, ich liebe ihn immer noch, sagte sie tonlos. Er ist tot. Neue Tränen, sie umklammerte Hans, presste ihren Kopf in seine Armbeuge, noch mehr Tränen.

Er wartete lang. Dann sagte er: Sag mir alles. Ich glaube, das hilft dir.

Die Nazis haben ihn abgeholt. Er war Jude.

Er schwieg. Also das mit den Juden … Er hatte manches gehört. Und er wusste, dass er viel mehr nicht gehört hatte. Das Thema war vergiftet. Als er jünger war, hatte er mal den Vater danach gefragt. Das ist eine schwierige Sache, hatte der gesagt. Das verstehst du noch nicht. Vater sagte das auf eine Art, die Gefahr signalisierte. Lass das! Frag danach nie wieder.

* * *

Hans war ein guter Junge aus großbürgerlichem Haus. Er begann ein Fremdsprachenstudium, Englisch, Französisch und Linguistik. Alles deutete darauf hin, dass er mal als Lehrer an einem Gymnasium arbeiten würde. Vielleicht aber auch als Dozent oder gar als Professor an einer Universität.

Helga war lange Geschichte. Da Hans attraktiv war und sein Vater Geld hatte, interessierten sich die Mädchen für ihn. Mit einundzwanzig schwängerte er eine Sechzehnjährige namens Susanne Kasper. Susanne war nicht sehr gläubig und war down to earth, wie die Engländer sagen, aber sie lehnte eine Abtreibung ab. Ein Söhnchen kam auf die Welt. Es wurde auf den Namen Stefan getauft. Die Sache wurde mit Vaters Geld geregelt. Susanne erhielt eine üppige einmalige Abfindung. Die Vaterschaft allerdings musste Hans juristisch anerkennen.

Mit zweiundzwanzig machte er sein Examen. Der gerade wieder eingerichteten deutschen Armee, der Bundeswehr, entrann er knapp. Mit sechsundzwanzig promovierte er an der Goethe Universität, die um die Ecke lag, in Anglistik zu dem Thema: »Die englische Sprache im 19. Jahrhundert in den Kolonialgebieten Südostasiens«. Eine erste Reise dorthin hatte ihn per Schiff nach Indien, Burma, Siam und Malaysia geführt. Auch Hongkong lag auf der Strecke. Immer noch wohnte er zu Hause in der Villa. Susanne, seine hübsche, dralle Rothaarige, besuchte ihn manchmal. Lass uns doch zusammenziehen, bettelte sie. Musst mich auch nicht heiraten. Der kleine Stefan braucht einen Vater. Mal sehen, sagte Hans, mal sehen. Er hatte es bequem im zweiten Stock der Villa, konnte sich aber nicht vorstellen, hier in Familie zu machen.

Der Mord, der sein Leben aus den Fugen geraten ließ, stoßweise, wie eine multiple Sklerose, die lange auf einem Stand verharrt und plötzlich in einem neuen Schub zuschlägt, der Mord geschah, als er siebenundzwanzig war. Sein Sohn Stefan war sechs und Susanne immerhin auch schon zweiundzwanzig. Man schrieb das Jahr 1964. Mit seinem Vater hatte Hans nicht mehr viel zu tun. Gemeinsames Essen war schon vor Jahren aufgegeben worden. Mutters Bridgeclub-Treffen und auch ihre kleinen Reisen nach München, Rom, Amsterdam und London hatten zugenommen und brachten die Regelmäßigkeit in der Familie durcheinander, ebenso Vaters häufige Termine in der Fabrik und mit Geschäftsfreunden. Es war klar: Beide hatten sich inzwischen anders orientiert. Vater Georg ganz klassisch mit einer Sekretärin, der er eine Wohnung in Sachsenhausen finanzierte, Mutter etwas exotisch mit einem Tänzer der Frankfurter Oper, der eigentlich schwul war, sich aber für sie und ihr Geld gern mal umpolte. Schließlich war sie immer noch schlank, und etwas gestylt konnte sie als Vierzigjährige durchgehen.

So lebte man in der Villa nebeneinander her, ohne sich viel auf die Nerven zu gehen, aber auch ohne sich viel zu sehen. Deswegen bekam Hans, der inzwischen den Doktor und eine Assistentenstelle an der Uni hatte, zuerst gar nicht mit, dass mit seinem Vater eine Veränderung vor sich ging. Den Mann bedrückte etwas. Deswegen wurde er nach außen immer lustiger, aktiver, lauter. Trotz seiner insgesamt etwas schlichten Art hatte er gewöhnlich eine gewisse Souveränität und Contenance an den Tag gelegt. Diese Fassade bröckelte. Die Etagentür zu Hans’ Wohnung stand meistens offen, und nun hörte er die Stimme des Vaters, wie sie lauter als früher im Parterre schale Witze und Plattheiten von sich gab: Jetzt geht‘s rund! sagte der Papagei und sprang in den Ventilator. Der Eindruck verfestigte sich, als Hans eines Abends von der Uni kam und Vaters Mercedes eben über den Kies der Einfahrt knirschte.

(Fortsetzung in Ausgabe FA09/2023)

Über den Autor

Wolfgang Rill wurde in Fulda geboren. Heute lebt er zeitweise wieder dort, vorwiegend aber in Thailand. Seit dreißig Jahren schreibt er Geschichten und veranstaltet Schreibrunden für Interessierte. Seine Bücher sind bei Amazon unter „Wolfgang Rill“ bestellbar oder beim Autor erhältlich. „Alle lieben Mr. John“ ist sein siebter Roman.

Kontakt: wrill@t-online.de

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