ALLE LIEBEN MR JOHN

Fortsetzungsroman von Wolfgang Rill – Teil 32

(Fortsetzung von FA12/2023)

Die neue Regierung war seit einem Jahr an der Macht. Sie war nicht, wie viele gehofft hatten, nach kurzer Zeit wegen Unfähigkeit zusammengebrochen, sondern erfreute sich beängstigender Kraft. Es war gut, als jüdischer Unternehmer ein paar Gois zu kennen, wie Seligman sie insgeheim nannte. Schillners Verbundenheit mit höheren SA-Chargen in der Stadt war ihm wohlbekannt, obwohl darüber nie gesprochen wurde. Dass es eine besondere Sympathie Schillners zu Leila gab, versuchte dieser so gut es ging zu verheimlichen. Aber Seligman und vor allem dessen Frau Lotte sahen es doch mit Unbehagen.

Ich habe ihn damals oft in unserem Haus gesehen. Ich habe gesehen, mit welchen Blicken er Leila angestarrt hat, wenn er glaubte, dass niemand ihn beobachtet. Ich habe ihn auf Anhieb nicht gemocht, sagte Frau Eickner.

Die junge Leila spielte das Spiel mit. Sei es, weil sie geschmeichelt war, dass so ein erwachsener Geschäftsmann, fünfzehn Jahre älter als sie, ein Deutscher, trotzdem attraktiv, der schon einen Laden hatte und in der Stadt viele Leute kannte, dass also so ein Herr ihr schöne Augen machte und ihr heimlich zuraunte: Können wir uns nicht einmal alleine irgendwo treffen? Vielleicht war sie aber auch nur deswegen zugänglich, weil sie wie ihr Vater annahm, dass es in diesen Zeiten für ihre Familie nützlich sei, wenn man einem Deutschen nicht die kalte Schulter zeigte.

Sie entschuldigte sich auf dem Ausflugsschiff und ging zur Toilette. Als sie wiederkam, schob sie Georg Schillner einen gefalteten Kaffeeuntersetzer zu: Donnerstag 14.30 Uhr. Gasse hinter dem Goethe-Gymnasium.

Später, kurz vor ihrem Abtransport, hat mir Leila das alles erzählt. Da hatte sie Schillner längst durchschaut und hasste ihn, sagte Frau Eickner. Aber an diesem Nachmittag war er mit seinem Sportcabrio gekommen. Sie waren in den Taunus gefahren, und es kam zu einem ersten Kuss. Mehr nicht. Zumindest hat Leila gesagt: Mehr nicht.

Später dann doch mehr. Sie muss sich ihm hingegeben haben. Aber es hat nichts genützt. Georg Schillner hatte inzwischen mitbekommen, dass es bei Seligmans mehr zu holen gab als die Tochter. Eine Weile spielte er ein doppeltes Spiel. Äußerlich tat er so, als wolle er Seligman helfen, hinterrücks betrieb er die Firmenübernahme. Zum Beispiel riet er, lieber einen arischen Teilhaber in die Firma zu nehmen, um ihr einen arischen Anstrich zu geben. Und der Kompagnon sollte natürlich er sein. Später erhöhte er den Druck seiner SA-Genossen auf Seligman durch erzwungene Anwürfe in der Frankfurter Zeitung und durch angeblich spontane Volksaufläufe vor dem Fabriktor.

Es kam das Jahr 1937, Leila war inzwischen siebzehn. Gott, was für ein Bild von einem Mädchen! Sie hätten sie sehen sollen. Ein Prachtkind, zierlich, feingliedrig, mit pechschwarzen langen Haaren und diese Augen, zum Verrücktwerden, sagte Frau Eickner. Mir hatte man nahegelegt, dieses jüdische Haus zu verlassen. Schon ab Anfang 1936 war es illegal, dass jüngere Deutsche in jüdischen Familien arbeiteten. Ich hielt noch eine Weile heimlich durch. Dann wurde auch auf mich der Druck zu stark. Ich weiß, Sie wollen das nicht, aber gehen Sie, hat der Alte Seligman mir eines Abends gesagt. Und er hat mir noch eine größere Summe in die Hand gedrückt. Geld, das er später selbst gut hätte gebrauchen können.

Lange Zeit hat Schillner die Seligmans dann noch gestützt und geschützt. Natürlich hat er es getan, um Leila in Griffweite zu behalten. Von einer Emigration hat er immer abgeraten. Die Dinge würden sich schon wieder beruhigen. Das sagte er noch, als schon Krieg war und man von Transporten in den Osten munkelte. Dann ging es Schlag auf Schlag: Übernahme der Fabrik, Übernahme der Villa und zum Schluss auch die Preisgabe von Leila. Er hatte sie ja gehabt, jetzt konnte er sie fallenlassen, ohne etwas versäumt zu haben. Vielleicht war sie ihm auch zu alt geworden. Sie ging immerhin auf die Zwanzig zu, fügte Frau Eickner sarkastisch an. Ich kann es nicht beweisen, aber ich bin mir sicher, dass Ihr Vater seine Hände im Spiel hatte, als die Seligmans abgeholt wurden und mit einem der ersten Transporte in den Osten gingen. Offiziell mussten die Juden selber diese Listen zusammenstellen, irgend so ein jüdischer Verwaltungsrat. Es wird für einen SA-Bonzen, wir nannten die damals »Goldfasane«, leicht gewesen sein, da eine bestimmte Familie reinzudrücken.

Ganz in Vergessenheit war geraten, dass es noch einen weiteren Seligman gab. Leila hatte noch einen jüngeren Bruder, den kleinen Ismael. Der war schon 1935, als die Nürnberger Gesetze rauskamen, nach England geschickt worden. Soviel ich weiß, wuchs der Junge dort bei entfernten Verwandten auf. Er wird seine Eltern schnell vergessen haben, weil er noch sehr klein war, sagte Frau Eickner. Ich vermute, man erzählte ihm aus Rücksicht nichts über seine Herkunft. Deswegen hat es wohl so lange gedauert, bis er nach Deutschland kam, um hier seine Sache zu vertreten. Sie machte eine Pause, dann fügte sie hinzu: Und um hier zu sterben wie seine Eltern.

Hans Schillner wurde nach diesem Abend ein anderer Mensch. Du musst dein Leben ändern, zitierte er innerlich den Dichter Rilke. Doch er änderte es nicht aus Ehrfurcht vor der Schönheit Apolls, sondern aus Ekel vor der eigenen Herkunft. Mit seinem Vater sprach er nur noch ein einziges Mal. Er zog ihn nicht zur Rechenschaft. Sehr sachlich setzte er ihm nur auseinander, dass er gedachte, Deutschland zu verlassen und vermutlich nicht wiederzukommen. Auf sein Erbe werde er verzichten, ebenso auf jeden Kontakt mit den Eltern. Ja, auch mit der Mutter möchte er nichts mehr zu tun haben. Er bitte sich nur eine kleine Summe aus, um im Notfall im Ausland überleben zu können. Der Vater sollte, solange er das leisten könne, jeden Monat zweihundert Mark auf ein Konto bei der Deutschen Bank in Frankfurt einzahlen. Von dort werde Hans das Geld dorthin transferieren lassen, wo er sich gerade befinde.

(Fortsetzung in Ausgabe FA14/2023)

Über den Autor

Wolfgang Rill wurde in Fulda geboren. Heute lebt er zeitweise wieder dort, vorwiegend aber in Thailand. Seit dreißig Jahren schreibt er Geschichten und veranstaltet Schreibrunden für Interessierte. Seine Bücher sind bei Amazon unter „Wolfgang Rill“ bestellbar oder beim Autor erhältlich. „Alle lieben Mr. John“ ist sein siebter Roman.

Kontakt: wrill@t-online.de

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