ALLE LIEBEN MR JOHN

Fortsetzungsroman von Wolfgang Rill – Teil 34

(Fortsetzung von FA14/2023)

Der Bruch mit seinem alten Leben war nicht eine einsame und völlig unübliche individuelle Entscheidung. Gemeinsam mit Hans war auch die Welt in diesen Jahren dabei, sich zu verändern. Eine Gruppe Musikanten aus England, die sich die Beatles nannte, machte die Jugendlichen, vor allem die Mädchen, verrückt, die jetzt Teenager hießen. Aus Amerika schwappte eine bizarre Jugendmode über den Teich, die Flower Power hieß. An den Universitäten rumorte es. Man schickte sich an, gegen die Sitten der Väter anzutreten. Etwas später kam der Begriff des »Aussteigers« in Mode. Die Mondlandung stand bevor. Und gegen den Krieg in Vietnam waren alle. Was hatten in dieser Welt noch Hans Albers zu singen und Ilse Werner zu pfeifen, die die Alten sich immer noch anhörten? Was interessierten noch die alte völkische Heimatliebe oder »Deutschlands Größe« oder die Rechtfertigungsgeschichten vom »Wiederaufbau«?

Hans ging zunächst für ein paar Jahre nach Thailand in ein buddhistisches Kloster. Drei Jahre muss er wohl in der Nähe von Phuket im Wat Phra Vienarnia verbracht haben. Aus dieser Zeit gab es für Dr. Stark nichts zu erfahren.

Vielleicht war das Leben mit Buddha für Hans zu langweilig geworden, denn im vierten Jahr fand Dr. Stark ihn in Asunción, der Hauptstadt von Paraguay, wieder. Woher das Geld für die Reise und für den Anfang dort kam und warum überhaupt gerade Asunción als nächstes Ziel, ist nicht zu erfahren. Später zog er in die Nähe von San Pedro am Rande des Gran Chaco. Dort verbrachte Hans lange Jahre, es könnten zwölf gewesen sein. Schon früh tat er sich mit einem Mestizenmädchen zusammen, halb Guarani, also Ureinwohnerin. Uneheliches Kind eines nach dem Krieg eingewanderten Brasilianers. Schweinehübsch, aber offenbar nach Berichten der Kinder total doof. Sie gebar ihm Zwillinge, zwei Mädchen, so hübsch wie sie selber, aber zum Glück geistig nicht so simpel gestrickt. Hans finanzierte alles ohne Rückgriff auf sein Konto in Deutschland. Zuerst wohl Deutschkurse und Englischkurse am Goethe-Instititut Asunción, später Export von Naturdärmen von Schafen, Ziegen, Rindern für die deutsche Wurstindustrie. Monatlich zwei, später vier Container gingen ab ins Heimatland. Jeder Container brachte dreitausend Dollar Provision. Davon ließen sich Frau und Kinder finanzieren, und es ließ sich sogar etwas zurücklegen.

Inzwischen war der Ostblock zusammengebrochen, und Hans ging plötzlich in die Mongolei. War es ihm in Paraguay zu warm geworden? War es ihm dort zu deutsch geworden? Immerhin gab es all die Altnazis und den Diktator Stroessner in dem Land und auch diesen Heribert Rödel, der die Ureinwohner um ihr Land betrog und seine deutschen Geldgeber gleich mit. Jedenfalls, Hans ging. Er zog weiter. Er ließ seine Mestizenfrau und seine beiden Mädchen zurück und verschwand. Aber er sorgte für sie. Wenn ich mal sterbe, sagte er zur Mestizin, dann benutze dieses Papier. Ja, genau dieses Papier. Darin steht, dass du und die Kinder eine Menge Geld erben werdet, wenn ich sterbe. Hans hatte schon in Thailand herausbekommen, wie viel Geld auf seinem Konto lagerte. Eine Viertelmillion! Dass es später noch viel mehr wurde, hat er bis an sein Lebensende nicht gewusst.

In der Mongolei begann er wieder mit Englischunterricht in verschiedenen Schulen. Es gab nach der Wende im gesamten ehemaligen Ostblock einen gewaltigen Bedarf an Lehrern westlicher Sprachen. Russisch interessierte niemanden mehr. Im Land von Dschingis Khan war auch Deutsch gefragt, denn es hatte langjährige intensive Kontakte zum sozialistischen Bruderland DDR gegeben. Was lag näher, als eine Privatschule für Fremdsprachen aufzumachen? Das Land und die Menschen waren arm, viele wohnten am Stadtrand von Ulan Bator in Jurten, dort Del genannt. Doch das Leben war billig, und wenn die Schüler auch nur wenig an Schulgeld bezahlten, so brachte doch ihre schiere Zahl eine Menge ein. Nach kurzer Zeit war Hans auch dort wieder wohlhabend, pflegte Kontakte zum Goethe-Institut und zur deutschen Botschaft und begann nebenbei einen florierenden Handel mit gebrauchten Geländewagen aus Deutschland, die er in Konvois durch Polen, Ukraine, Russland und Kasachstan bis in die Mongolei fahren ließ. Wohlversorgt ließ er auch dort seine Freundin Minjbadgar zurück. Diesmal mit nur einem Kind, einem Jungen namens Noyan. Beim Abschied legte er ihr einen Umschlag in die Hand. Wenn ich einmal gestorben bin, dann mache den Umschlag auf. Ihr werdet eine Menge erben, auch wenn ihr es mit anderen Leuten teilen müsst.

Warum er wieder ging? Niemand weiß es. Vielleicht war es ihm in der Mongolei zu kalt geworden, denn dort herrscht sieben Monate im Jahr Winter. Vielleicht konnte er es auch nicht ertragen, dass er wieder ein wohlhabender, geachteter Bürger war.

Neben der Arktis und Afrika blieb als neuer Kontinent nur Australien übrig. Dort verbrachte Hans das Jahrzehnt, bevor er sechzig wurde. Seine Liebe hieß Suzan und war die Tochter eines Farmers in den Outbacks. Hans arbeitete als einfacher Angestellter auf der Farm. Es war ein gesundes Leben im Freien, aber um mal Nachbarn zu besuchen oder in der Stadt einen heben zu gehen, musste er mit einer kleinen Cessna eine Dreiviertelstunde fliegen. Mit Suzan zeugte Hans sein vorletztes Kind, ein Mädchen, das die Eltern Sue nannten. Auf der Farm war für ihn das Leben umsonst. Es gab wenig Gelegenheit, Geld auszugeben. Als er ging, drückte er daher Suzan eine hübsche Summe in die Hand sowie einen Umschlag. Wenn er mal nicht mehr lebe, solle sie den Umschlag öffnen. Sie werde dann, gemeinsam mit anderen, viel Geld erben.

Hans war nun sechzig. Aber er besaß noch Zeugungsfähigkeit. Wir finden ihn wieder in seinem alten Kloster in Phra Vienarnia in Thailand, von wo einst seine Odyssee begann. Diesmal waren es sieben Jahre, die er hier verbrachte. Aber es gab in dieser Zeit einen Fehltritt, der einem buddhistischen Mönch eigentlich nicht erlaubt ist.

(Fortsetzung in Ausgabe FA16/2023)

Über den Autor

Wolfgang Rill wurde in Fulda geboren. Heute lebt er zeitweise wieder dort, vorwiegend aber in Thailand. Seit dreißig Jahren schreibt er Geschichten und veranstaltet Schreibrunden für Interessierte. Seine Bücher sind bei Amazon unter „Wolfgang Rill“ bestellbar oder beim Autor erhältlich. „Alle lieben Mr. John“ ist sein siebter Roman.

Kontakt: wrill@t-online.de

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