ALLE LIEBEN MR JOHN

Fortsetzungsroman von Wolfgang Rill – Teil 4

(Fortsetzung von FA10/2022)

Dann folgt der anstrengende Teil der Stunde. Khun Pim liest Satz für Satz vor, und die Schüler müssen im Chor wiederholen. Manchmal würde ein Engländer oder ein Amerikaner wohl verstehen, was Khun Pim sagt. Manchmal würden sie sogar verstehen, was die Schüler wiederholen. Wenn das nicht gelingt, was sehr häufig ist, liegt es zum Teil daran, dass Thais es ablehnen, den letzten Buchstaben von Wörtern auszusprechen, wenn es nicht gerade ein I oder ein D ist. Außerdem haben sie Probleme mit den Buchstaben S und R. »Melli Kitma«, liest Khun Pim zum Beispiel vor, und die Kinder wiederholen »Melli Kitma«. Dass dies »Merry Christmas« heißen soll, darauf muss man erst mal kommen. »Maikn« heißt Michael, »hau« heißt »house«. So ein Englischlehrer hat es schwer, denkt Khun Pim, sehr schwer. Und da kommt dieser verdammte Mr John mit seinem neumodischen Englisch und weiß alles besser.

So denken auch noch einige andere im Kollegium. Zum Beispiel die junge Sen, die eigentlich gar kein Examen hat und die nur auf Druck ihres Vaters in der Stadtverwaltung hier eine Stelle als Hilfslehrerin hat. Ihre Fächer sind Singen und Tanzen. Leider ist sie so verklemmt, dass alle Schüler besser singen und tanzen als sie, denn Kinder singen und tanzen gern. Sie kompensiert das durch strenge Kontrolle der Schuluniformen. Wehe, ein Mädchen hat mal nicht die vorgeschriebenen weißen Socken an. Wehe, eine Bluse oder ein Hemd ist nicht gebügelt. Und wie läuft dieser John rum? Abgewetzte Cordhose, manchmal sogar Bermudashorts, T-Shirt, ausgelatschte Sandalen. Unglaublich, dass die Direktorin so etwas nicht unterbindet. Man muss dagegen etwas unternehmen.

Aber die Direktorin, Frau Anuthida, deckt Mr John. Sie weiß, was sie an ihm hat. Er ist ein Alleinstellungsmerkmal ihrer Schule. Niemand in weitem Umkreis hat einen eigenen Engländer, auch wenn der gar keiner ist. Allein seine Exis­tenz schmückt die Schule. Sie führt ihr Schüler zu, die sonst vielleicht doch zu einer Privatschule gegangen wären. Aber das ist es nicht allein. Das ist nur das Argument, hinter dem Frau Anuthida sich gern versteckt. Man muss ja nicht gleich jedem mitteilen, dass sie, nun ja, dass sie irgendwie …, kurz gesagt, dass sie auf ihre Art … sozusagen … Mr John … liebt! Es ist eine heimliche, zarte, sehnsuchtsvolle Liebe – völlig aussichtslos, völlig absurd.

* * *

Mr John bietet eine Fortbildung für seine Lehrerkollegen an. English conversation for teachers. Im Parterre seines Hauses gibt es einen Tisch, was schon ungewöhnlich ist. In einer Ecke ein Stapel Plastikstühle, je nach Bedarf. Angefangen hat alles mit fünf Interessenten. Der Sportlehrer ist dabei, der sich eine Reise nach Kanada mit seiner Volleyballmannschaft verspricht, das Ehepaar Nut und Khan, sie lehrt Thai, er Mathematik, eine ältere Dame, die merkwürdigerweise Technologie unterrichtet, und zur allseitigen Überraschung: Frau Anuthida, die mit der Schule verheiratet ist. Wir hier in der Provinz müssen uns zur Decke strecken. Die in der Stadt halten uns doch für beschränkt. Da müssen wir Weltoffenheit üben, sagt sie und lässt sich freundlich einen blauen Plastikstuhl bringen, auf dem sie Platz nimmt und dann die anderen zum Sitzen auffordert.

Mr John sieht in fünf gespannte Gesichter. Draußen radelt der Eisverkäufer mit seinem Singsang vorbei, die Tageshitze lässt schon nach. Das Ehepaar Nut und Khan wird sicher wieder an das schöne Geld denken, das man der Direktorin vor sieben Jahren in den Rachen werfen musste, um die zwei Stellen zu ergattern. Und jetzt sitzt sie hier, die korrupte Kuh, und mimt Interesse an Fremdsprachen. Ähnliches könnte die alte Technologielehrerin überlegen, die schon vor Frau Anuthida an der Schule war. Ach ja, sie selbst hätte damals bestimmt eine gute Direktorin abgegeben, als die Stelle vakant wurde. Nur leider hatte sie nicht so reiche Verwandte wie Frau Anuthida. So konnte sie nicht genug Geld zusammenbringen, um die Stelle zu kaufen. Aber das ist lange her. Und so uneben ist die Anuthida gar nicht.

What did you have for break­fast this morning?, sagt Mr John. Er fragt es in die Runde. Erschrocken schaut jeder auf. Lange Pause. Dann fixiert John den Sportlehrer, dem er am ehesten etwas Englisch zutraut, und wiederholt die Frage. Please tell me in English what you had for breakfast this morning before school. Khun Nes lächelt verkrampft. Betretene Gesichter ringsum. Mr John wiederholt die Frage noch mal.

Peinliches Schweigen.

Ich glaube, er will etwas übers Essen wissen, flüstert Kollegin Nut dem Sportlehrer zu. Der guckt verdutzt. Mr John wartet mit freundlicher Mine.

Rai, sagt Kollege Nes dann.

Please answer: I had some rice this morning, sagt Mr John. Da vermutlich jeder in der Runde am Morgen Reis gegessen hat, lässt er den Satz gleich von jedem wiederholen und dann von allen im Chor sprechen.

Rice, sagt er mit besonderer Betonung des Zischlauts am Ende.

Rai, sagen alle.

Say sss sss, sagt John.

Alle schweigen.

Sss, sagt die Direktorin und lächelt.

Frau Nut versucht es, scheitert aber. Ihr Mann sagt sowieso nichts. Er kann kaum noch verbergen, dass er genervt ist.

Mr John versucht es mit einer anderen Struktur, die seine Schüler schon nach ein, zwei Stunden fröhlich nachplappern: Do you like …

Do you like ice cream?, fragt er.

Ai laik eicä krim, verkündet die Direktorin stolz.

Jetzt fragen Sie einen anderen, bittet Mr John durch Handzeichen. Die Direktorin überlegt einen Moment und wendet sich dann an Khan, den Mann von Frau Nut: Do you like our school?

Der Mann windet sich. Er hat schon verstanden, das liest man in seinen Augen. Man ist hier, um etwas gut Wetter für die Karriere zu machen. Dass man auch noch reden soll, ist eine Zumutung.

I like school!, sagt er gepresst.

(Fortsetzung in Ausgabe FA12/2022)

Über den Autor

Wolfgang Rill wurde in Fulda geboren. Heute lebt er zeitweise wieder dort, vorwiegend aber in Thailand. Seit dreißig Jahren schreibt er Geschichten und veranstaltet Schreibrunden für Interessierte. Seine Bücher sind bei Amazon unter „Wolfgang Rill“ bestellbar oder beim Autor erhältlich. „Alle lieben Mr. John“ ist sein siebter Roman.

Kontakt: wrill@t-online.de

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