ALLE LIEBEN MR JOHN

Fortsetzungsroman von Wolfgang Rill – Teil 26

(Fortsetzung von FA06/2023)

Die Echtheit dieses Dokuments sei zu prüfen, ebenso die möglichen Erbanteile und Pflichtteile der anderen Parteien sowie die gesamte Höhe des Erbes überhaupt, weil auch eine Immobilie im Spiel sei. Der Anwalt bittet um weitere Geduld, denn, wie beschrieben, sei die Sachlage verwickelt. Nach bestehender Rechtslage habe allein der noch zu bestimmende Haupterbe das Recht und die Pflicht, festzulegen, wie mit dem Toten verfahren wird. Solange dieser Haupterbe nicht gerichtlich benannt ist, habe niemand das Recht, die Leiche zu begraben oder zu verbrennen.

Mr John ruht und ruht und ruht.

2. Teil

Die Schillners waren einmal eine der führenden Familien der Stadt Frankfurt am Main. Väter und Großväter waren lange Jahre Stadträte und Inhaber eines alteingesessenen Geschäfts für Bürobedarf an der Frankfurter Hauptgeschäftsmeile Zeil. Georg Schillner, der Vater von Hans, übernahm diese Position Anfang der dreißiger Jahre als noch recht junger Mann. Zum Bürogeschäft kam später noch eine Drahtfabrik, die Georg anfangs nebenher betrieb. Sie lief gut, und das ebenfalls schon in der dritten Generation. Nur hatten die beiden Generationen davor nicht Schillner geheißen, sondern Seligman. Eine Gründerzeitvilla im Westend war auch von Seligman übernommen.

Natürlich arrangierte man sich in den Dreißigern mit den politischen Machthabern. Dies nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auch aus tiefer und gläubiger Überzeugung heraus, dass Deutschland nun erwacht sei und im Wachzustand Ungeheures anstellen würde. Ungeheuer lukrativ wurde es zunächst. Die Produktion in der neuerworbenen Fabrik vervierfachte sich. Der Bedarf an Stacheldraht wuchs und wuchs. Nicht nur spanische Reiter an allen Fronten mussten ausgerüstet werden, sondern auch diese neuen Sammelzentren, oder wie man das nannte, für die Feinde des Reiches, die unbedingt alle eingezäunt gehörten. Mehrere Bombenangriffe auf die Drahtfabrik an der Stadtgrenze zu Hanau sowie zunehmender Mangel an Roheisen und Walzstahl schränkten den Umsatz wieder ein. Zum Schluss machten zwei Phosphorbomben der schönen Villa in der Bo­ckenheimer Landstraße den Gar aus. Im Sommer 1945 fand sich die Familie Schillner im notdürftig abgedichteten Keller ihrer Villa wieder, von der neuerdings nicht ganz klar war, ob es wirklich ihre war, über sich die ausgebrannte Ruine. Auch der Absturz hatte also etwas Ungeheures.

Der achtjährige Hans, einziger Stammhalter der Familie, fand ihn gar nicht so schlimm, den Absturz. Zwar hatten die Bombenangriffe ihm viel Angst gemacht, aber zum Schluss war er auf Kinderlandverschickung gewesen, und jetzt war sowieso alles vorbei. Wenigstens musste man einstweilen nicht in die Schule. Die Bomben hatten alle Schulgebäude im Umkreis zerstört. So hatten sie auch ihr Gutes, urteilte der kleine Hans.

Georg Schillner, der Vater, dem es gelungen war, sowohl Wehrmacht als auch Volkssturm zu vermeiden, und der sich guter Gesundheit erfreute, war in diesem Punkt nicht der Meinung seines Sohnes, aber in allem anderen verstanden sich die beiden gut. Der Junge war Vaters Goldstück und »vielleicht hilft er ja mal mit, Deutschland aus seiner momentanen, vom Weltjudentum verbrochenen Schande zu befreien und wieder groß zu machen«. So sprach der Vater.

Mit dem wieder Großwerden ging es für Deutschland etwas mühsam, für den kleinen Hans dagegen schneller. Als der Vater eines Tages in die Kellerwohnung stürzte, ein Blatt aus billigem Papier in der Hand, und rief: Persil! Persil!, da war es immerhin schon Anfang achtundvierzig. Hänschen war inzwischen fünfzehn Zentimeter gewachsen und konnte schon als Hans gelten. Als es einige Zeit später das neue Geld gab und Vater mit Mutter tuschelte: Meine Freunde in der Stadtverwaltung haben es rausgekriegt: Da kommt keiner zurück!, ging Hans stolz neben dem Vater durch die weitgehend aufgeräumten Straßen und bekam für einen Teil der ersten fünfzig Mark ein gebrauchtes Fahrrad gekauft. Die Drahtfabrik arbeitete wieder. Der Vater verkaufte das Geschäft an der Zeil und der Erlös wurde in den Wiederaufbau der Villa und in die Fabrik gesteckt.

Alles wurde gut. Hans war ein guter Schüler. Er lernte schnell und ging inzwischen aufs Lessinggymnasium, zwischenzeitlich einmal Leo-Schlageter-Gymnasium, im Westend. Obwohl man dort Wert auf die alten Sprachen Latein und Griechisch legte, wurde Englisch sein Lieblingsfach. Der Vater sagte zwar: Was hast du nur mit den Amis und den Inselaffen zu schaffen?, vermerkte aber mit Wohlwollen die Note eins in diesem Fach. Sein Verhältnis zu seinem Sohn war trotzdem etwas abgekühlt. Der Junge zeigte Tendenzen, sich dieser neuen Mode, den Existenzialisten, anzuschließen. Er trug Schwarz, versuchte vergeblich, sich ein Bärtchen wachsen zu lassen, und paukte Französisch, damit er ausländisches Zeug von einem gewissen Sartre und von diesem Camus im Original lesen konnte. Vater war immer noch aufrecht, blond und gesund mit strahlendem Blick. Mit dem neuen Mercedes fuhr er jeden Morgen in die Fabrik. Bald gab es auch einen Fahrer, der ihn kutschierte. Mutter ging zu den anderen reichen Frauen in den Bridge Club. Den Haushalt erledigten ein Dienstmädchen und eine Köchin. Nach alter großbürgerlicher Tradition wurde das Dienstmädchen namens Helga auch die erste Geliebte, mit der Hans schlief.

Helga kam von einem Bauernhof bei Butzbach in der Wetterau. Sie hatte hart gegen ihre Eltern gekämpft, um nicht wie eine Magd auf dem Hof rackern zu müssen. Wiederwillig hatten die Eltern ihre hübsche Tochter ziehen lassen, und seither fuhr sie kaum mal nach Hause. Aber einen großen Teil ihres ohnehin kargen Dienstmädchenlohns musste sie schicken. Als es passierte, war Hans sechzehn und ging in die Obersekunda. Helga war sechsundzwanzig und hatte die Volksschule nach der achten Klasse verlassen. Sie konnte kaum ein Wort Englisch oder Französisch, aber sie hatte dafür ein freches Mundwerk und einiges erlebt.

(Fortsetzung in Ausgabe FA08/2023)

Über den Autor

Wolfgang Rill wurde in Fulda geboren. Heute lebt er zeitweise wieder dort, vorwiegend aber in Thailand. Seit dreißig Jahren schreibt er Geschichten und veranstaltet Schreibrunden für Interessierte. Seine Bücher sind bei Amazon unter „Wolfgang Rill“ bestellbar oder beim Autor erhältlich. „Alle lieben Mr. John“ ist sein siebter Roman.

Kontakt: wrill@t-online.de

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