ALLE LIEBEN MR JOHN

Fortsetzungsroman von Wolfgang Rill – Teil 24

(Fortsetzung von FA04/2023)

Allerdings ist der oberste und erste Bürger des Städtchens Phung Daet damit an den Falschen geraten. Der junge Verwaltungsvizechef strafft sich, wird ganz amtlich und sagt: Einer Verlegung können wir aufgrund verschiedener Vorschriften auf keinen Fall zustimmen! Es gibt zum Beispiel die Vorgabe, dass wir als zuständiges Krankenhaus die für die möglichen Angehörigen anfallenden Kosten so niedrig wie möglich halten müssen. Eine nicht wirklich nötige Verlegung in eine andere Klinik würde diese Kosten unnötig erhöhen.

Verdammter Heuchler, denkt Anuthida. Es weiß doch jeder, worum es hier geht: Ihr wollt Geld verdienen. Ein toter Farang in der Kühlkammer ist ein Kapital. Das gibt man nicht so leicht aus der Hand. Was kostet denn eine Übernachtung in Ihrer Pathologie?, fragt sie gespielt freundlich.

Nun, die Tieffrostung ist nicht ganz billig. In etwa müssen Sie mit tausend Baht pro Nacht rechnen.

Bei uns in der Provinz wären es nur vierhundert Baht, denkt der Bürgermeister, aber er sagt es nicht. Stattdessen fragt er: Dürfen wir den Toten wenigs­tens mal sehen? Nur um sicher zu sein, dass es auch der ist, den wir meinen.

Das wird gestattet. Gemeinsam fahren alle ins Souterrain des Klinikgebäudes. Es geht durch lange Gänge bis zu einer weißen Metalltür mit der Aufschrift »Mortuary«, was im Thai-Englisch Pathologie bedeutet. Der Verwaltungsmensch drückt einen Klingelknopf, und die Tür wird von innen geöffnet. Ein Krankenpfleger oder besser Totenpfleger in weißem Kittel hört sich ihr Begehr an. Der Mann blickt lächelnd auf den Bürgermeister, aber der tut unbeteiligt und scheint ihn nicht zu erkennen. Der Pfleger führt sie dann in einen sehr hellen, sehr kalten Raum mit quadratischen Türen an der Längswand, die wie Kühlschranktüren aussehen. Im Raum auf weißen Fliesen fünf blank geputzte Metalltische, wahrscheinlich für das Sezieren. In der Luft Geruch nach Formalin. Die Ausbildung in Anatomie der Universität findet zum Teil bei uns statt, sagt der Verwalter stolz.

Der Mann ist übrigens an zwei Embolien gestorben, mischt sich der Krankenpfleger ein. Ein junger Mensch. Er beugt mehrfach sein pomadisiertes Haupt, gleichzeitig wichtigtuerisch und kratzfüßig. Ich habe bei der Feststellung der Todesursache assistiert, sagt er. Der Arzt stellte fest, es war eine Thrombose im linken Bein, nicht ungewöhnlich bei langen Busfahrten, und dann kam noch eine Embolie im Gehirn, ein Schlaganfall dazu. Es war, als hätte Gevatter Tod ganz sichergehen wollen.

Dann liegt er vor ihnen: wächsern, den Schnauzbart schlaff auf der Haut, tief eingefallene Wangen, der magere Körper unter einem Leichentuch. Am großen Zeh, der herausschaut, ein Kärtchen an einer Schnur mit ein paar Angaben. Ein Bild, wie man es aus Kriminalfilmen kennt. Der Bürgermeister und Anuthida haben sich im Griff. Aber Eule, die bisher noch nichts gesagt hat, schluchzt auf. Eilig fummelt sie nach einem Tüchlein in ihrer Handtasche. Ja, er ist es. Das ist unser Mr John, sagt die Schuldirektorin. Der Bürgermeister nickt dazu. Beide denken das gleiche: Und dir, mein Junge, sei gesagt, wir werden ihn hier rausholen und in unsere Stadt bringen. Das wirst du aalglatter Anzugmensch nicht verhindern können.

Einstweilen müssen sie aber unverrichteter Dinge zurückfahren.

Ich glaube, da kommt noch einiges auf uns zu, sagt Frau Anuthida in die Stille im Wagen.

Glaube ich auch, sagt der Bürgermeister. Er hat seinen für Thaiverhältnisse elend langen Körper heute in seinen offiziellen dunkelblauen Anzug mit Weste und Schlips gezwängt.

Beim einschläfernden Brummen des Motors denken beide an Vorgänge in den letzten Jahren zurück, die in die Ordnung bürokratischer Abläufe nicht ganz passten. Man wollte Mr John halten. Das hatte oberste Priorität. Und der Alte war, was die Bürokratie betraf, immer störrischer geworden.

Anuthida denkt an Szenen zurück, in denen sie ihren John bekniete, doch bitte, bitte mal auf das Amt zu gehen, wenigs­tens um sich mal blicken zu lassen. Wahrscheinlich gebe es etwas zu unterschreiben. Man sei hier in Thailand. In einem Rechtsstaat nach preußischem Vorbild. Es gebe Gesetze, die den Aufenthalt von Ausländern regelten, ebenso wie ihre Arbeit.

Wenn Sie mich haben wollen, dann regeln Sie bitte selber. Sie sind schließlich die Direktorin, und der Bürgermeister ist unser Freund. Mich bringt kein Pferd mehr in so ein Immigration Office. Ich kriege Hautausschläge, wenn ich nur dran denke. So sprach der Alte und gähnte. Und Anuthida regelte. Sie tat es mit viel Energie. Sie tat es für einen Englischlehrer an ihrer Schule, zu dem alle Schüler wollten, der manchen von ihnen wirklich Englisch beibrachte, bei dem sie ihre liebe Not hatte, auch die anderen Englischlehrer mit Schülern zu versorgen, und schließlich, ach, einfach weil es Mr John war, dieser zum Sterben liebenswerte alte Mann.

Der Bürgermeister denkt an seine Verhandlungen mit dem Leiter der Immigration, der thailändischen Einwanderungsbehörde, zurück. Widerwillig hat der im ersten Jahr zugestimmt, den Fall Mr John einfach zu vergessen. Eine nicht ganz vorschriftsmäßige Baugenehmigung für das neue Eigenheim des Leiters war nötig gewesen. Zwar gab es in den Aktenschränken der Immigration eine Kopie von Mr Johns altem Pass, inzwischen war der aber abgelaufen und nicht erneuert. Laut Pass war Mr John nicht Engländer, sondern Deutscher, geboren in Frankfurt am Main im Jahr 1937. Der Pass war aber nicht dort ausgestellt, sondern in der deutschen Botschaft in Asunción, der Hauptstadt von Paraguay in Südamerika. Die Seiten mit den meisten Visa waren nicht kopiert. Es gab eine Seite mit einem Rentner-Jahresvisum aus dem Jahr 1999. Das lag über zehn Jahre zurück. Mr John lebte und arbeitete illegal in Thailand, wie es illegaler gar nicht sein konnte. Als der Bann erst mal gebrochen war, gab es keinen Weg zurück in die Legalität.

(Fortsetzung in Ausgabe FA06/2023)

Über den Autor

Wolfgang Rill wurde in Fulda geboren. Heute lebt er zeitweise wieder dort, vorwiegend aber in Thailand. Seit dreißig Jahren schreibt er Geschichten und veranstaltet Schreibrunden für Interessierte. Seine Bücher sind bei Amazon unter „Wolfgang Rill“ bestellbar oder beim Autor erhältlich. „Alle lieben Mr. John“ ist sein siebter Roman.

Kontakt: wrill@t-online.de

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