ALLE LIEBEN MR JOHN

Fortsetzungsroman von Wolfgang Rill – Teil 23

(Fortsetzung von FA03/2023)

Sie muss ihre Brille abnehmen. Sie ist von ihren plötzlichen Tränen ganz verschmiert. Dann ruft sie Peter an, der immer noch in Bangkok arbeitet. Khun Nes, ihr sportlicher Kollege, muss sich setzen. Verzweifelt presst er sich die Fäuste an die Schläfen. Selbst der Bürgermeister in seinem Büro rutscht nervös auf seinem Stuhl hin und her und lässt für eine Weile keine Telefongespräche durchstellen

Es ist wahr. Es ist leider, leider verdammt wahr. Man hatte damit rechnen müssen, Mr John war ja schon uralt. Aber dass er dann doch einmal stirbt? Und dann auch noch auf diese Art. Im Bus! So richtig hatte sich das niemand vorstellen können. Und jetzt ist es passiert.

Alle, die dem alten Engländer, der keiner ist, nahestehen, drängt es zueinander. Es sind ja noch Ferien. Man will miteinander reden. Man will sich austauschen und den Schmerz teilen. Niemand gibt es bekannt, aber wie von selbst zieht es viele dorthin, wo man am wahrscheinlichsten die anderen antrifft: in die Schule.

Frau Anuthida kommt als Erste. Sie wollte eigentlich in Johns Klassenraum ein wenig allein vor sich hinmümmeln. Sie wollte die Plakate an den Wänden, die Arbeitshefte und Buntstifte noch mal betrachten, die leeren Arbeitstische, die abgewetzten Stühle, die mit allem möglichen Kram gefüllten Regale und die Blumentöpfe, die vor der Tafel hängen. Aber die Tür steht nicht still. Zuerst kommt Eule, dann Nes, dann ein paar weitere Kollegen und sogar Schüler der oberen Jahrgänge und einige Ehemalige, darunter die drei Freundinnen Tin, Bla und Namtip.

Lasst uns eine Weile schweigen, sagt Anuthida.

Und sie schweigen.

Man kann aber nicht ewig schweigen. Auch Mr John hätte das nicht gewollt. Zuerst gibt es ein Geflüster, dann schon erste leise Unterhaltungen. Namtips Handy piepst. Sie drückt den Anruf weg.

Wir müssen etwas unternehmen, sagt Khun Nes. Ja, das müssen wir.

Frau Anuthida nickt. Wenn er schon tot ist, sagt sie dann traurig, dann wollen wir ihn wenigs­tens anständig verbrennen.

Jawohl, das sind wir ihm schuldig nach allem, was er für die Schule getan hat, wirft einer der Kollegen ein.

Und die Asche kommt in die Schule!, ruft Tin. Dann haben wir ihn immer bei uns.

Das weiß ich noch nicht, ob das geht, sagt die Direktorin. Aber eine würdige Verbrennung muss sein. Wir werden sammeln, um den Abt vom Racha Nima Kloster zu bezahlen. Es ist das nächste Kloster, das ein Krematorium hat.

Man sitzt noch eine ganze Weile beieinander. Manche hier haben sich schon lange nicht mehr gesehen. Anfangs redet man über Mr John, über Erinnerungen an ihn, doch dann irren einige Gespräche auch ab, und man erzählt sich, wie es einem so geht und wie es steht. Es ist wie auf einem Leichenschmaus in Deutschland, nur dass der Schmaus hier schon mal stattfindet, bevor die Beerdigung war. Und wie bei einer echten thailändischen Beerdigung wird die Stimmung bald gelöster. Jemand bringt ein paar Flaschen Wasser, ein anderer holt ein paar Stäbchen Fleisch vom Grillwagen um die Ecke und etwas Salat. Eine heimliche Flasche Lao Thaiwhisky findet sich, und ein fröhliches Gelage hebt an. Zu einer echten Beerdigungsfeier fehlt nur der Tote, der normalerweise in der Mitte auf einem Tisch thront, eingelegt in einen offenen Sarg mit Kühlung.

Schon am nächsten Tag fährt eine Delegation aus Phrung Daet nach Khon Kaen in die große Stadt, um Mr John abzuholen. Man hat einen Leichenwagen dabei, den der Bürgermeister auf Kosten einer halbprivaten Schatulle gestiftet hat. Er erinnert sich an den denkwürdigen Tag, als die Volleyballspiele waren, und an den Englandbesuch der Mannschaften aus seiner Stadt und an die Rolle, die der alte Engländer dabei gespielt hat. Er ist immer noch dankbar. Er hat auch herausbekommen, wo der Leichnam überhaupt zu finden ist. Das war gar nicht einfach, sagt er. Ich hatte das Gefühl, die wollten mir nicht sagen, wo der Mann liegt.

Haben Sie denn gefragt, ob wir Mr John wirklich mitnehmen können?, fragt Anuthida. Sie sitzt auf der hinteren Sitzbank des langestreckten Pickups, der als Leichenwagen dient. Vorne sitzt der Bürgermeister neben dem Fahrer, hinten neben der Direktorin sitzt Eule.

Natürlich können wir ihn mitnehmen. Wieso denn nicht?, antwortet der Bürgermeister. Die stellen einen Totenschein aus, Angehörige gibt’s nicht, also sind wir als Stadt für ihn zuständig. Und er soll eine anständige Verbrennung haben, eine sehr anständige!

Anuthida hat ihre Zweifel, aber sie sagt nichts.

Die Zweifel bestätigen sich, als sie vor dem zuständigen Mann im Verwaltungstrakt des Krankenhauses stehen. Der smarte Dreißigjährige in Anzug und Krawatte, der sich als Verwaltungsvizedirektor vorgestellt hat, sagt:

So einfach geht das aber nicht!

Wieso nicht?

Wir haben gestern die englische Botschaft in Bangkok informiert, wie es Vorschrift ist. Die haben noch nicht zurückgemeldet, ob in England ein Dr. Hans Schillner bekannt ist. Den Namen haben wir übrigens nur von einem abgelaufenen Thai-Führerschein. Sonst hatte der Tote keine Ausweispapiere dabei. Wir müssen abwarten, was die Botschaft sagt. Vielleicht gibt es Angehörige, zum Beispiel Kinder, die die Leiche in England bestatten möchten.

Der Bürgermeister wird plötzlich verlegen. Das spürt Anuthida, die neben ihm steht. Ob etwas mit dem Führerschein nicht in Ordnung ist? Und merkwürdig, dass der Alte nur einen Führerschein dabeihatte, keinen Pass, keine ID-Card.

Wir regeln das schon von Phung Daet aus, sagt der Bürgermeister forsch. Wir haben auch ein Krankenhaus mit Kühlkammer. Da kann er so lange liegen, bis die Dinge geklärt sind.

(Fortsetzung in Ausgabe FA05/2023)

Über den Autor

Wolfgang Rill wurde in Fulda geboren. Heute lebt er zeitweise wieder dort, vorwiegend aber in Thailand. Seit dreißig Jahren schreibt er Geschichten und veranstaltet Schreibrunden für Interessierte. Seine Bücher sind bei Amazon unter „Wolfgang Rill“ bestellbar oder beim Autor erhältlich. „Alle lieben Mr. John“ ist sein siebter Roman.

Kontakt: wrill@t-online.de

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