ALLE LIEBEN MR JOHN

Fortsetzungsroman von Wolfgang Rill – Teil 22

(Fortsetzung von FA02/2023)

Seine Frau blieb genau die drei Jahre bei ihm, die sie für ein dauerhaftes Bleiberecht brauchte. Danach verschwand sie nach Wien. Ich habe es geahnt, sagt Mr John. Aber sie hat damals so gebettelt, dass ich ihr helfe. Und den Mann habe ich nicht ausgesucht. Den hat sie als Internetadresse schon mitgebracht.

* * *

Jahr für Jahr geht Mr John ein wenig krummer, Jahr für Jahr wird er ein wenig klappriger, aber seine Umgebung bemerkt das kaum. Mr John ist von keiner Armee hier zurückgelassen worden. Ihn hat ein fernes Land ausgespuckt wie einen ausgelutschten Kaugummi und an dieses gottverlassene Städtchen geklebt. Wird er noch die nächsten dreißig Jahre durchhalten? Die Darumas und Studebakers aus Kriegszeiten sind ja auch verschwunden. Man fährt jetzt Toyota und Ford.

Was er wohl dort draußen in der Welt für ein Leben hatte?, fragt sich mancher. Was war er früher? Ein Ingenieur? Ein Arzt? Ein Lehrer? Ein Landwirt? Ein Advokat? Ein Maler? Ein Handwerker? Ein armer Mann? Ein reicher Mann? Und welcher Lebenssturm hat ihn hierher geweht? Steckte eine Frau dahinter, eine unglückliche Liebe? Oder hat er etwas verbrochen und muss sich verstecken?

Frau Kim fürchtet sich jedes Jahr mehr vor den Sommerferien. Dann verschwindet John für einige Wochen. Nach irgendwo bei Phuket, sagt man, aber das weiß niemand genau. Wird er wiederkommen?, fragt sich Frau Kim dann.

Und er kommt wieder. Jahr für Jahr. Auch in seinem letzten Jahr kommt er wieder. Aber da ist er tot.

* * *

Der Bus Bangkok–Khon Kaen brummt durch die Nacht. Der Fahrer hat sich bequem mit den Unterarmen aufs Lenkrad gestützt, denn es geht meist geradeaus. Noch vier Stunden bis zum Ziel. Neben ihm ist die Reisebegleiterin eingeschlafen.

Gestern Abend um sieben ist man im Bangkoker Northern Bus Terminal vom Hof gerollt. Züge gibt es in Thailand kaum. Und wenn, dann sind sie superlangsam. Man fährt Bus. Obwohl es eigentlich Ferienzeit ist und viele unterwegs sind, ist der Wagen heute Nacht nur schwach besetzt. Ganze Bankreihen sind freigeblieben und jeder der wenigen Fahrgäste hat einen freien Nachbarsitz, bis auf das Pärchen, das umschlungen zur Not auch auf nur einem Sitz Platz fände. Die Klimaanlage kühlt, die Vorhänge sind zugezogen, der Motor brummt leise, der Fahrer fährt auf den breiten Überlandstraßen gleichmäßig hundertzehn und riskiert nicht zuviel. Eigentlich ein guter Ort zum Sterben.

Vielleicht hat sich Mr John das gedacht, als er hier seine Seele aushauchte. Er saß in der vorletzten Bankreihe, hinter ihm niemand. Deswegen hat ihn auch niemand beim Aushauchen gestört. Erst als der Bus schon in seiner Parkbucht am Busbahnhof Khon Kaen steht, fragt sich die Reisebegleiterin, warum wohl der Passagier aus der vorletzten Reihe den Bus nicht verlässt. Ein alter Mann. Er wird wohl eingeschlafen sein. Er liegt mit dem Gesicht nach oben im Sitz. Die Lehne so weit es geht nach hinten gestellt. Ein wenig bleich sieht er aus, fast wächsern. Sie nähert sich und berührt ihn behutsam an der Schulter. Fühlt sich steif an. Sie ruckelt stärker an der Schulter. Da rutscht der Kopf etwas zur Seite. Die Augen sind offen.

Sie schreit.

Der Fahrer kommt den Gang nach hinten gestürzt, zwei, drei Angestellte des Busterminals auch. Die anderen Fahrgäste haben sich zum Glück schon verlaufen. Was macht man mit einem Toten im Bus? Noch dazu ein Farang. Ganz klar, da muss die Polizei ran. Ein kleiner, drahtiger Beamter in straff sitzender Uniform rollt auf seinem Motorbike neben den Bus. Nach Begutachtung der Leiche kratzt er sich am Kopf und sagt: Weiß auch nicht, was man in so einem Fall anstellt.

Eine kleine Traube von Leuten hat sich am Bus gebildet. Die meisten gucken neugierig auf den Fahrer oder den Polizisten und schweigen. Ein drahtiger alter Tricyclefahrer dagegen gibt aufgeregt gute Ratschläge, die niemand hören will. Der Polizist redet mit seinem Walkie Talkie. Es sieht aus, als kaue er daran.

Nach zehn Minuten nähert sich lautes Lalülala. Offenbar hat jemand im Polizeirevier die richtige Idee gehabt. Ein Notarztwagen des Prachotruek-Hospitals prescht heran und hält dramatisch quer vor dem Bus. Eilig entsteigen ein Mann in Uniform und ein Weißkittel, offenbar ein Arzt. Im Nu ist der Arzt im Bus. Er fühlt an Mr Johns Schläfe, er nimmt die Hand, die noch nicht steif ist, er hält einen kleinen Spiegel vor den Mund. Tot!, ruft er in den Gang hinter ihm, der sich gefüllt hat mit dem Fahrer, der Begleiterin, dem Polizisten und einer Frau, die sich schon eine ganze Weile Gehör zu verschaffen versucht:

Ich kenne den Mann. Das ist Mr John aus Phung Daet! Ich bin auch aus Phung Daet. Bei uns kennt ihn jeder. Ich könnte ihn mitnehmen! Die Frau versucht vergeblich zu bewerkstelligen, dass die Leiche neben sie in den Anschlussbus in ihre Heimatstadt gesetzt wird. Dort kann man sich doch viel besser um ihn kümmern!, ruft sie.

Liebe Frau, das ist völlig verrückt, antwortet der Arzt. Wir haben schließlich unsere Vorschriften über Leichentransporte. Und der Fahrer des Notarztwagens fügt zur Bekräftigung einen Satz hinzu, der für den Fortgang der Dinge programmatisch wird. Er sagt: Der Tote gehört uns!

* * *

Durch die Frau, die Mr John im Übrigen nur flüchtig kennt, weil sich nichts mit der Schule zu tun hat, verbreitet sich die Nachricht im Lauf des Tages rasch in der Stadt. Es ist nicht so, dass die Uhren stocken oder die Sonne am Himmel stehenbleiben würde. Die Uhren gehen weiter, und die Sonne nimmt wie immer ihren Lauf. Aber im Gemüt vieler Leute im Städtchen wird es für einen Moment traurig und dunkel. Mr John nicht mehr da? Tot? Darf das sein? Kann das sein? Geht das denn überhaupt? Frau Anuthida erreicht die Nachricht beim Blumengießen. Ihr fällt die Kanne aus der Hand. Eule, die immer noch schön ist, beschickt gerade ihren Reiskocher, als eine Nachbarin die Nachricht bringt.

(Fortsetzung in Ausgabe FA04/2023)

Über den Autor

Wolfgang Rill wurde in Fulda geboren. Heute lebt er zeitweise wieder dort, vorwiegend aber in Thailand. Seit dreißig Jahren schreibt er Geschichten und veranstaltet Schreibrunden für Interessierte. Seine Bücher sind bei Amazon unter „Wolfgang Rill“ bestellbar oder beim Autor erhältlich. „Alle lieben Mr. John“ ist sein siebter Roman.

Kontakt: wrill@t-online.de

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