ALLE LIEBEN MR JOHN

Fortsetzungsroman von Wolfgang Rill – Teil 20

(Fortsetzung von FA26/2022)

An der Festtafel wird es unruhig. Jemand klatscht. Jemand ruft, Uiuiui! Bald applaudiert und johlt der ganze Tisch.

Nur noch kurz ein paar Worte, fährt Peter fort. Es gibt eine Schule in der englischen Stadt Leeds, die Woodhouse Grove School. Dort ist man genauso volleyballbegeistert wie ihr hier in Thailand. Die Schülermanschaften spielen in der höchsten englischen Liga. Diese Schule lädt Sie ein. Unsere Jungen und Mädchen – Peter sagt bewusst »unsere« – werden in englischen Familien wohnen. Es werden Bekanntschaften entstehen, vielleicht Freundschaften, und vielleicht wird es Gegenbesuche geben.

Peter macht eine Pause und sieht in die erfreuten, aber abwartenden Mienen. Er weiß, was hinter den Stirnen vorgeht. Einladung, na schön und gut, aber wer bezahlt das?, werden die Leute denken. Deswegen fährt er fort:

Und auch sehr wichtig: Die Fahrt wird von der englischen Botschaft Bangkok unterstützt werden. Wir haben einen Topf für Jugendförderung und Sport. Zwei Sponsoren aus der Wirtschaft haben außerdem zugesagt. Die Schule in England fördert uns ebenfalls, und auf eine Zusage der Stadt Leeds warten wir noch. Wenn alles gut geht, wird die Fahrt unsere – er sagt wieder »unsere« – Jugendlichen keinen einzigen Baht kosten. Ich möchte jetzt Schluss machen, sagt Peter, aber eins noch: Fahren Sie und gewinnen Sie!

Nun müssen die Kellnerinnen ganz schnell die neuen Flaschen bringen. Der Jubel schwappt über und sucht ein Ventil im Trinken und Zupros­ten. Der Bürgermeister blickt gerührt, Frau Anuthida hält vor Freude die Hände vor ihr Gesicht, Nes hat Tränen in den Augen. Fast ist das morgige Ereignis vergessen. Nach England! Wo liegt das überhaupt? Sicher auf der anderen Seite des Erdballs. Für einen verwöhnten Mittelständler aus dem reichen Europa mag das nichts Besonderes sein. Eine etwas längere Urlaubsreise halt, wie man sie öfter mal macht, nach Frankreich, nach Südafrika oder eben nach Thailand. Aber für jemanden aus dem Isaan, wo es in vielen armen Häusern noch keinen Tisch gibt, wo man auf dem Boden isst und in einem Betonloch hinter dem Haus seine Notdurft verrichtet, für so jemanden ist das eine Sensation, von der er nicht mal zu träumen wagte, sei er nun Schüler oder Lehrer. Nur langsam legt sich der Trubel. Nes, mit einem feuchten Tüchlein, das er in der Faust zusammenpresst, erhebt sich. Er sagt bescheiden, er fände gar keine Worte, um sich für diese Überraschung zu bedanken. Er sei tief gerührt und: Natürlich werden wir fahren! Und gewinnen!

Uiuiuiuiui! macht der Tisch.

Nach und nach leert sich die Tafel. Nur am unteren Ende der langen Tischreihe sitzt noch ein Grüppchen von Aufrechten. Saaphaa ist dabei und Eule, auch Peter und der Polizeichef. Khun Nes und die Direktorin haben sich schon nach Hause verabschiedet, denn morgen wird es anstrengend. Zwei der Kellnerinnen halten tapfer durch, natürlich für ein dickes Trinkgeld. Peter kann sich kaum der Avancen des Polizeichefs erwehren, der unter Alkoholschüben zu entdecken scheint, dass er eigentlich ein bisschen gay ist. Er umarmt Peter sehr herzlich, und öfter gibt es ein Küsschen auf die Wange. Alles aus Dankbarkeit für die Einladung natürlich. Wenn Peter nicht aufpasst, küsst ihn der korpulente Thai auch mal auf den Mund. Max und Phoo haben sich dazugesellt. Peter lobt Max für sein vorzügliches Englisch und bittet ihn, gelegentlich mal nach seinen Zähnen zu schauen. Etwas verschämt erzählt Phoo, die mit Max ebenso noch ausgehalten hat, die Geschichte ihres Kennenlernens. Mr John sitzt stoisch dabei und tut sehr unbeteiligt.

Wo wir bei den Bekenntnissen sind, muss ich auch mal etwas loswerden, wirft Eule plötzlich ein, die Zunge schon etwas schwer. Sie übersieht mit Absicht das heftige Abwinken von Mr John. Es muss mal gesagt werden, erklärt sie. Alle denken, das mit der Einladung nach England sei Peters Idee gewesen, vielleicht auch ein bisschen meine. Das stimmt nur zum Teil. In Wirklichkeit stammt der Gedanke von dem älteren Herrn da drüben, der gerade so heftig abwinkt. Probier doch mal, ob dein Peter für den Nes und für die Schule was machen kann. Sei nicht so schüchtern, hat er mir in der Schule gesagt. Von allein hätte ich mich nie getraut, nach so einer Einladung zu fragen, aber Mr John hat mich mehrmals angeschubst. Schließlich habe ich es gemacht, und Peter war gleich dabei. Jetzt aber Schluss!, wirft John ein. Das sind höchst vertrauliche Schulinterna. Die gehen keinen was an.

Es ist schon gegen Morgen, als die letzten Gäste aus dem Hotel wanken.

Zwei Gestalten stützen den alten Mann, als er sich im Morgengrauen aus dem Tricycle schält, das auf der Gasse gehalten hat. Im hinteren Teil des Erdgeschosses brennt noch ein Lämpchen. Frau Kim, die Haushälterin, hat auf Mr John gewartet. Ich konnte nicht schlafen, bevor er nach Hause kommt, murmelt sie. Habe mir schon Sorgen gemacht. Er ist nicht mehr so gesund, wie er scheint. Dann übernimmt sie allein den Transport die Treppe hoch und ins Bett.

* * *

Mr John schläft bis elf Uhr durch. Er verpasst also den Beginn des festlichsten Samstags, den das Städtchen seit langem gesehen hat. Das macht aber nichts, denn er kennt die Choreographie von anderen Anlässen her. Seien es die Geburtstage der Königin und des Königs oder der Sportstag oder hohe buddhis­tische Feiertage. Stets füllt sich das Feld vor der Schule mit einer fröhlichen Menge.

Heute ist das Areal besonders reich geschmückt mit Girlanden in den Bäumen, mit Luftballons an Leinen und Lampions, mit Fähnchen, Flitterstreifen und bunten Bändern, die die Aufmarschwege und das Sportfeld abgrenzen. Am zentralen Punkt zwischen Schulgebäude und Sportplatz gibt es ein Podest unter einem Baldachin, ebenfalls reich mit Zierrat behängt, von dem aus Khun Nes die Abläufe regelt. Seine Stimme röhrt aus den Lautsprechergebirgen links und rechts von ihm. Er dirigiert den Einmarsch der Klassen, die sich hinter dem Schulgebäude bereithalten.

(Fortsetzung in Ausgabe FA02/2023)

Über den Autor

Wolfgang Rill wurde in Fulda geboren. Heute lebt er zeitweise wieder dort, vorwiegend aber in Thailand. Seit dreißig Jahren schreibt er Geschichten und veranstaltet Schreibrunden für Interessierte. Seine Bücher sind bei Amazon unter „Wolfgang Rill“ bestellbar oder beim Autor erhältlich. „Alle lieben Mr. John“ ist sein siebter Roman.

Kontakt: wrill@t-online.de

Überzeugen Sie sich von unserem Online-Abo:
Die Druckausgabe als voll farbiges PDF-Magazin weltweit herunterladen, alle Artikel vollständig lesen, im Archiv stöbern und tagesaktuelle Nachrichten per E-Mail erhalten.