ALLE LIEBEN MR JOHN

Fortsetzungsroman von Wolfgang Rill – Teil 7

(Fortsetzung von FA13/2022)

John überlegt eine Weile. Du musst nicht heute antworten, sagt er dann. Lass mich überlegen. Gib mir ein paar Tage Zeit. Dann kannst du ihm immer noch schreiben.

Da gibt es so viel Unausgesprochenes zwischen dieser jungen Frau und ihm, denkt Mr John, als Phoo sich verabschiedet hat. Als Schülerin hat er sie gemocht und sie ihn sicher auch. Heute ist sie deprimiert, aber mit einem Funken Hoffnung. Er selbst darf nichts zu direkt ansprechen. Dazu kennt er den Stolz der Thais gut genug. Es ist sinnlos zu fragen: Liebst du diesen Mann wirklich? Er würde sie damit in die Enge treiben, das wäre unhöflich. Natürlich ist da keine Liebe – überhaupt ein ziemlich abgegriffenes Wort, denkt John. Aber sie hat es geschrieben. Es würde einen Gesichtsverlust bedeuten, eine Lüge zuzugeben. No lier!, hat sie schließlich selbst geschrieben. Erst recht kann er unmöglich fragen: Wirst du mit ihm ins Bett gehen? Mal sehen, was man tun kann, denkt John.

In der Nacht, allein an seinem Schreibtisch, sieht er sich den Mann auf dem Bildschirm noch mal an. Deutscher. Grobes, fleischiges Gesicht. Nicht ganz unsympathisch. Das kann aber auch am Foto liegen. Stumpfe Augen. Fünfundsechzig Jahre gibt er zu, er könnte aber auch siebzig sein. Er schreibt an einer Stelle, dass er in einer metal factory gearbeitet habe und nun in Rente sei. Das mag stimmen. John glaubt, dass er in der Fabrik eher an der Drehbank stand als am Zeichenbrett. Viele seiner kurzen Sätze wirken schlecht übersetzt. Was den Sex betrifft, wird er nicht direkt, aber er fragt immerhin, ob sie gerne kurze Röcke trägt und ob sie Bikinis liebt – das ist das Direkteste, das John findet.

Und wie soll das ablaufen, wenn er tatsächlich nach Thailand kommt? Er wird wohl allein kommen, schreibt nichts von einem Reisekameraden. Er wird vermutlich hilflos sein. Ob er es überhaupt vom Flughafen Bangkok bis nach Khon Kaen schafft? Schließlich muss er einen Bus finden, sich eine Nacht um die Ohren schlagen, und das nach elf Stunden Flug von Frankfurt aus. Er sieht nicht aus, als ob er viel Auslandserfahrung hätte. Vermutlich war er mal auf Mallorca. Vielleicht auch mal in Österreich. Aber Asien? Unwahrscheinlich. Und dann wird er sich an Phoo hängen, sollte sie sich tatsächlich mit ihm treffen. Er wird das einsetzen, was sein einziger Aktivposten zu sein scheint, sein Geld. Und natürlich wird er dafür von der jungen Phoo die Gegenleistung erwarten, die man sich denken kann. In den meisten Thaihotels ist das kein Problem. Man ist dort darauf eingerichtet, von der Diskretion des Portiers, der von den Mädchen nur einen Ausweis verlangt, bis zum breiten Bett. Mr John dreht sich der Magen um. Ist seine Schülerin Phoo so schön, so sanft geworden, hat einundzwanzig Jahre gelebt, um einem solchen Ekeltyp den Lebensabend zu versüßen? Eingeweckt in einen Wohnblock in einer Neubausiedlung am Stadtrand von Gelsenkirchen vielleicht? Wenn es hochkommt, hat er dort eine Eigentumswohnung, aber vielleicht wohnt er auch zur Miete. Und würde er überhaupt mit ihr zusammenbleiben? Sie heiraten? John stellt sich vor, wie der Mann mit ihr durch die Fußgängerzone läuft, Hand in Hand. Alle Welt wird sich nach dem schönen Mädchen umdrehen, und alle Welt wird denken: Aha, eine aus dem Katalog mit einem fetten alten Lustmolch. Sollte man verbieten, so was. Er ist in Rente, wird oft zu Hause sein. Sie wird bald bemerken, dass die Rente eines Fabrikarbeiters in Deutschland durchaus begrenzt ist. Man wird sich anöden, sich darüber zerstreiten, wie viel die Familie in Thailand monatlich geschickt bekommt. Vielleicht hat er einen Schrebergarten und einen Skatclub. Da nimmt er sie mit, lässt sie nicht aus den Augen. Und sie muss ihn bedienen, hinten und vorn. Unterhalten können sie sich kaum, die deutsche Sprache erlernt sie nur schwer, trotz Deutschprüfung A1. Er liest die Bild-Zeitung, für sie wird er vielleicht Thaifernsehen per Internet einrichten lassen. Sie kocht für ihn, aber sie kann erst mal keine Schnitzel braten und Gulasch und Krautwickel machen. Was sie kocht, schmeckt ihm nicht. Sie wird versuchen, Kontakt zu anderen Thaifrauen in der Stadt aufzunehmen, es gibt sie überall. Er wird das argwöhnisch beobachten und vielleicht unterbinden, so gut es geht.

John versucht allerdings auch, die Dinge nicht so schwarz zu sehen und die Sache auch aus der Position von Alfred, so heißt der Mann, zu betrachten. Für ihn könnte durch Phoo ein dritter Frühling anbrechen oder ein fünfter. Etwas wie Glück könnte in sein Leben eintreten. Er wirkt nicht so, als habe er bisher viel Glück gehabt. Vielleicht wird er liebevoll mit ihr umgehen. Sie nach einer Weile in Deutschland zu einer Ausbildung schicken, wenn sie genug Deutsch kann, damit sie auf eigenen Füßen steht, wenn er mal nicht mehr ist. Vielleicht wird er mit ihr reisen, ihr Heidelberg und Berlin zeigen, die Berge und die Küste. Deutschland ist ja schön, wenn auch etwas kühl. Und es gibt Frankreich, Spanien, Italien, Skandinavien zu entdecken. Vielleicht sogar werden die beiden noch ein Kind zustande bringen. Dann hätten sie einen neuen Lebensinhalt und Beschäftigung. Vielleicht leben seine Eltern und Geschwister noch und sind gesund, so dass etwas Verwandtschaft da ist, welche die junge Thailänderin freundlich aufnähme.

John wird Phoo bei ihrem Alfred unterstützen. Aber er entscheidet sich, nebenbei noch eine andere Baustelle zu eröffnen, von der er Phoo nichts sagt.

* * *

Nach drei Tagen, es ist ein Samstag, klingelt sein Handy. Ob sie morgen kommen darf? John sagt Frau Kim aus dem Nachbarhaus, die für ihn kocht, er habe eine neue Schülerin zur Englischnachhilfe. Sie möge ihm doch für fünf Uhr nachmittags einen kleinen Imbiss zurechtmachen und etwas Wasser und Orangensaft bereitstellen. So ist Phoos Besuch legitimiert und wirkt unverfänglich.

Als Phoo das nächste Mal bei ihm sitzt, diesmal auf dem Boden mit gekreuzten Beinen, wie sie es gewohnt ist, und sie dem scharfen Thaisalat, den Hähnchenschenkeln und dem Reis zusprechen, die Frau Kim gebracht hat, lässt John behutsam seine Vorbehalte durchblicken.

(Fortsetzung in Ausgabe FA15/2022)

Über den Autor

Wolfgang Rill wurde in Fulda geboren. Heute lebt er zeitweise wieder dort, vorwiegend aber in Thailand. Seit dreißig Jahren schreibt er Geschichten und veranstaltet Schreibrunden für Interessierte. Seine Bücher sind bei Amazon unter „Wolfgang Rill“ bestellbar oder beim Autor erhältlich. „Alle lieben Mr. John“ ist sein siebter Roman.

Kontakt: wrill@t-online.de

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