Wer sich derzeit im deutschsprachigen Raum auf den jeweiligen politischen Bühnen umsieht, bekommt einen Augenöffner nach dem anderen präsentiert. Auf europäischer Ebene haben sich Regierungschefs zunächst für die Europawahl stark gemacht. Manche sprachen sogar von einer Schicksalswahl. Seit Jahren hört man einhellig, Wahlverfahren müssten in Europa demokratisiert werden. 2014 hatte man sich in diesem Zusammenhang auf das Prinzip der Spitzenkandidaten verständigt. Bei der Europawahl im Mai gelang es dann tatsächlich mehr Menschen als je zuvor für diese Wahl zu interessieren.
Die konservative EVP mit ihrem Spitzenkandidaten Manfred Weber – zugegeben ein schwacher Kandidat – konnte die Wahl für sich entscheiden. Vor und nach der Wahl war vor allem von französischer Seite zu hören, dass es Weber auf gar keinen Fall werden solle. Die Visegrád-Staaten stimmten eifrig zu, da allen voran der ungarische Präsident Orban noch eine offene Rechnung mit Weber hatte. Nach längerem hin und her zauberte der Rat Ursula von der Leyen, die deutsche Verteidigungsministerin, aus dem Hut. Frau von der Leyen mag überzeugte Europäerin sein, hat aber in den letzten sechs Jahren als Ministerin nicht viele Erfolge vorzuweisen (Skandale um Einsatzbereitschaft und Ausrüstung der Bundeswehr, Gorch Fock, Untersuchungsausschuss wegen Beraterverträgen, etc.). Auch wegen einer starken dreisprachigen Rede am Wahltag wurde sie jedoch mit knapper Mehrheit vom Parlament gewählt. Jetzt muss man sehen, ob jemand, der die Führung der Bundeswehr nicht in den Griff bekommen hat, bei der Reform der EU einen besseren Job machen wird. Deutlicher als nach der Europawahl hätte jedenfalls der Rat nicht demonstrieren können, dass er sich weder um den Willen der Wähler noch um andere Institutionen der Union schert. Diese Vorgehensweise ist mehr als unglücklich und macht Politik unglaubwürdig.
Klüngeleien schaden dem Ansehen der Politik
In Deutschland tut sich nicht viel. Kanzlerin Merkel verwaltet und zementiert Stillstand. Die öffentliche politische Diskussion beschäftigt sich fast ausschließlich mit Personalfragen und wann die jetzige Regierung platzen könnte. Die Bestellung Kramp-Karrenbauers zur Verteidigungsministerin ist taktisch aus Merkels Sicht verständlich, dürfte der Bundeswehr allerdings nicht guttun. Auch hier entsteht der Eindruck, dass es nicht wirklich um die Sache geht.
Bedauerlich ist auch die Ibiza-Affäre, die Österreich im Mai erschüttert hat. Eine beim Volk beliebte Regierung, die auch brauchbare Ergebnisse vorzuweisen hatte, scheiterte an der schier unglaublichen Amigo-Haftigkeit des FPÖ-Chefs Strache. Selbst wenn man den Inhalt der Verfehlungen ausblendet, bleibt die Frage, was die Allgemeinheit von dieser Art politischem Spitzenpersonal erwarten kann. Jeder mag diese Frage für sich beantworten.
Viele Schweizer können sich gegenwärtig das Schmunzeln nicht verkneifen, wenn sie die Europäische Union betrachten. Die Jahrhunderte alte Tradition der direkten Demokratie gibt in der Schweiz dem Volk und den Kantonen das letzte Wort bei der politischen Entscheidungsfindung. Insgesamt ist die Glaubwürdigkeit des politischen Systems schon deshalb hoch, da jeder Bürger am Beschluss der Gesetze beteiligt ist. Freilich gibt es auch was zu meckern, aber bei den Ergebnissen können die Schweizer zufrieden sein, denn im Vergleich zu anderen Staaten werden bei vielen wichtigen Fragen wie Migration oder Finanz- und Währungspolitik bessere Lösungen gefunden als anderswo.
Die größte Gefahr für die Glaubwürdigkeit der Politik ist jedoch die gegenwärtige Tendenz zur Leugnung von Realitäten. Auch hier kann die Europawahl 2019 als hervorragendes Beispiel dienen. Nach der Wahl verkündeten führende Politiker in der Union Erleichterung, dass die „Rechten“ im Zaum gehalten werden konnten. In Deutschland verbreiteten diesen Tenor auch seriöse Zeitungen wie Süddeutsche oder FAZ. Dies ist ein zweifelhafter Blick auf die Realität, da in Deutschland die politischen Ränder von Jahr zu Jahr stärker werden und in Frankreich der amtierende Präsident Macron sogar von Marine Le Pen geschlagen wurde.
Insgesamt ein Trauerspiel, vor allem wenn man bedenkt, welche Chancen und Möglichkeiten ein einiges und handlungsfähiges Europa in der Welt hätte.
Über den Autor
Christian Rasp ist Rechtsanwalt und seit 1992 in Thailand, Hongkong und China tätig. Er leitet ein spezialisiertes Consulting-Haus, lebt und arbeitet in Hua Hin, Bangkok und Hongkong. Die Kolumne Nachgefragt“ beschäftigt sich vorwiegend mit aktuellen ökonomischen Fragestellungen, die es verdienen, etwas genauer unter die Lupe genommen zu werden.
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