Argentinien wählt neuen Präsidenten

Weiter so oder Radikalkur 

Die argentinische Präsidentschaftskandidatin Milei bei einer Wahlkampfveranstaltung in Rosario. Foto: epa/Franco Trovato Fuocoo
Die argentinische Präsidentschaftskandidatin Milei bei einer Wahlkampfveranstaltung in Rosario. Foto: epa/Franco Trovato Fuocoo

BUENOS AIRES: Die zweitgrößte Volkswirtschaft Südamerikas steckt in einer tiefen Krise: Die Inflation liegt bei über 140 Prozent, rund 40 Prozent der Menschen sind arm. «Anarchokapitalist» Milei will einen Neuanfang mit radikalen Mitteln. Sind die Argentinier bereit für ein Experiment?

Bei der Präsidentenwahl am kommenden Sonntag in Argentinien tritt Wirtschaftsminister Sergio Massa von den regierenden Peronisten gegen den libertären Populisten Javier Milei an. In den jüngsten Umfragen liegen beide fast gleich auf. Wer auch immer das Rennen in der Stichwahl macht, steht vor gewaltigen Herausforderungen.

Smarter Technokrat gegen exzentrischen Außenseiter

Die beiden Kandidaten könnten nicht unterschiedlicher sein: Massa ist ein smarter Funktionär, als ehemaliger Parlamentspräsident und amtierender Wirtschaftsminister im politischen Establishment und auch international bestens vernetzt. Milei hingegen inszeniert sich als Enfant terrible der argentinischen Politik. Mit zerzaustem Haar und laufender Kettensäge wettert er bei Wahlkampfveranstaltungen gegen die von ihm verhasste politische «Kaste». Der Exzentriker spielte früher in einer Rockband und lebt mit fünf geklonten riesigen Mastiffs zusammen. Die Hunde hat er nach liberalen Ökonomen wie Milton Friedman und Robert Lucas benannt hat.

Um was geht es?

Die zweitgrößte Volkswirtschaft Südamerikas steckt in einer tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Inflationsrate liegt bei über 140 Prozent, rund 40 Prozent der Menschen in dem einst reichen Land leben unter der Armutsgrenze. Die Landeswährung Peso verliert gegenüber dem US-Dollar immer weiter an Wert, der Schuldenberg wächst. Die Zentralbank verfügt kaum noch über Währungsreserven, auf dem freien Kapitalmarkt bekommt Argentinien keine Kredite mehr.

Wie hat sich Argentinien in diese Lage manövriert?

Vor rund 100 Jahren gehörte Argentinien noch zu den reichsten Ländern der Welt. Jahrelanges Missmanagement, erhebliche Eingriffe des Staates in die Wirtschaft und ein großer Vertrauensverlust der Bevölkerung haben das Land allerdings in eine schwere Krise gestürzt. Heute leidet Argentinien unter einem aufgeblähten Staatsapparat, geringer Produktivität der Industrie und einer großen Schattenwirtschaft, die dem Staat viele Steuereinnahmen entzieht. Das Haushaltsdefizit finanziert die Regierung mit der Notenpresse, was die Inflation weiter anheizt.

Welche Rezepte gegen die Krise haben die Bewerber?

Während Massa die Regierungspolitik mit massiven Eingriffen des Staates in die Wirtschaft und umfangreichen Sozialprogrammen fortsetzen dürfte, will Milei den US-Dollar als gesetzliches Zahlungsmittel einführen, die Zentralbank und viele Ministerien abschaffen und die Sozialausgaben radikal kürzen. Kritiker befürchten allerdings, dass eine solche Radikalkur zumindest kurzfristig zu mehr Armut und damit zu großen sozialen Protesten führen könnte. Da Milei aber ohnehin über keine Mehrheit im Parlament verfügt, gehen Beobachter davon aus, dass er viele seiner radikalen Pläne im Falle eines Wahlsiegs gar nicht im vollen Umfang umsetzen könnte.

Wohin wollen die Kandidaten Argentinien international steuern?

Als Wirtschaftsminister hat Massa gute Beziehungen sowohl zu den USA als auch zu China aufgebaut. Er unterstützt Argentiniens Aufnahme in die Brics-Gruppe der großen Schwellenländer und will das zuletzt zerstrittene südamerikanische Wirtschaftsbündnis Mercosur wieder einen. Milei hingegen hat angekündigt, die Beziehungen zu den beiden wichtigsten Handelspartnern China und Brasilien aus ideologischen Gründen abbrechen zu wollen.

Dass ein selbst ernannter «Anarchokapitalist» wie Milei in einem Land wie Argentinien, wo fast 40 Prozent der Angestellten im öffentlichen Dienst beschäftigt sind, Millionen Menschen von Sozialleistungen leben und Treibstoff, Gas, Wasser und Strom stark subventioniert werden, überhaupt in die Stichwahl kommen konnte, spricht Bände über die Wut vieler Menschen auf das politische Establishment. Massa versuchte zuletzt, die Angst vor dem sozialpolitischen Kahlschlag eines Präsidenten Milei zu schüren und seine Basis mit Milliarden schweren Wahlgeschenken an sich zu binden. Am Sonntag wird sich zeigen, wie groß die Lust an politischen Experimenten am Rio de la Plata tatsächlich ist.

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