Thailand und seine Mythen (2): der Maenam Chao Phraya

​Der Fluß ist mehr als nur eine der Lebensadern Bangkoks

Thailand und seine Mythen (2): der Maenam Chao Phraya

THAILAND: Die Bandbreite, innerhalb derer Mythen entstehen, ist vielfältig. Meistens sind es überlieferte Erzählungen oder geheimnisumwitterte Orte, aus denen nationale Identität gewonnen wird. Auch Thailand verfügt über bestimmte Landschaften, Orte, Symbole oder Legenden, denen die Geschichte eine sakrale Aura verlieh. Wir wenden uns ihnen gerne in touristischer Unbefangenheit und Neugier zu.

Eine solche Aura besitzt der Maenam Chao Phraya, jener Fluss, der 240 Kilometer nördlich der Hauptstadt Bangkok aus dem Zusammenfluss des Ping und des Nan gebildet wird und der schließlich südlich der Hauptstadt an der Nahtstelle von Indochinesischer- und Malaiischer Halbinsel in den Golf von Thailand mündet.

Wer jemals gesehen hat, wie gemächlich, ja geradezu majestätisch er sich mitten durch die Millionenmetropole Bangkok schlängelt, der ist nicht verwundert, dass ihm der englische Sprachgebrauch den Beinamen ‚River of Kings‘ verliehen hat. Im feudalen Siam, also bis zur Revolution 1932, war ‚Chao Phraya‘ sogar ein hoher Adelstitel, vergleichbar etwa einem Herzog. Dieser noch in die Ayutthaya-Periode reichende höchste vom König verliehene Titel, der später in der Thonburi/ Bangkok-Ära noch erweitert wurde durch einen weiteren, noch höheren, nämlich Somdech Chao Phraya, wurde meist Bürgern zuerkannt, die im Staatsdienst tätig waren, wie wir wissen auch einigen Ausländern.

Bei der Liebe der Thailänder zu einer blumigen und bildhaften Sprache könnte die Namensgleichheit darin begründet liegen, dass man dem Fluss, den man erst sehr spät so nannte, eine ähnliche Größe und Bedeutung beimaß wie der Person, der man diesen Titel verlieh: Chao Phraya. Das Wort Maenam, so Professor Dr. Ampha Otrakul von der Bangkoker Chulalongkorn-Universität, bedeutet der Fluss. Es besteht aus zwei Wörtern und zwar mae (Mutter) und nam (Wasser), der Fluss als der größte Wasserweg des Landes wurde daher lange Zeit nur Mae-nam genannt, die größte ‚Wasserwegsmutter‘, bevor man ihn später mit dem Titel ‚Chao Phraya‘, seinem heutigen Namen, adelte. Der Maenam Chao Phraya also der ‚Herzog‘ unter den Flüssen Thailands!

„An beiden Ufern breitete sie sich aus, die damals noch von keinen weißen Eroberern bezwungene Metropole. Etliche Hütten aus Stäben und Gras hatte man so dicht an die Uferkante gesetzt, dass sie sich nur teils noch an das letzte Gestrüpp hier zu klammern schienen, teils überm Strom bereits ins Leere hingen“, schreibt Joseph Conrad in seinem 1917 erschienenen Roman „Die Schattenlinie“.

Der norddeutsche Marinemaler Hans Peter Jürgens vermittelt uns in seinem Bild „Bangkok zur Zeit Joseph Conrads“ einen Eindruck, wie es zur damaligen Zeit am Chao Phraya ausgesehen haben dürfte. Jürgens schreibt dazu:

Der größte und wichtigste Fluss...

„Die heute ausufernde Stadt mit 10 Mio. Einwohnern wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem dichten Netz von Kanälen, den Klongs, durchzogen, die alle wie feine Adern mit dem Chao Phraya in Verbindung standen. Der einstmals viel befahrene Fluss mit seinen größeren und kleinen auf Ladung wartenden Vollschiffen, Barken und altertümlichen Dampfern zeigt heute ein völlig verändertes Gesicht. Die Klongs mussten einem Straßennetz weichen. Die auf hölzernen Stelzen stehenden, von den hohen Masten der Segelschiffe überragten Holz- und Mattenbauten zu Zeiten der Erzählungen eines Joseph Conrad sind heute Hochhäusern und komfortablen Hotels gewichen, die das malerische Leben, wie auf dem Bild dargestellt, verdrängt haben.“

Auf den sich nur wenige Meter über dem Wasserspiegel erhebenden Terrassen dieser Hotels verfolgen heute gelangweilte Touristen die schweren Lastkähne, die - oft mehrere hintereinander in einer Reihe - von winzig scheinenden Schleppern gezogen werden. Dazwischen flitzen in atemberaubender Geschwindigkeit die gischtaufspritzenden Langboote, bisweilen gekreuzt von schnellen Expressbooten. Für Außenstehende ein ebenso quirliges wie buntes, aber auch chaotisches Treiben, das wie der thailändische Straßenverkehr keiner erkennbaren Regelung zu unterliegen scheint!

Hans Peter Jürgens:
Hans Peter Jürgens: "Bangkok zur Zeit Joseph Conrads" (Aquarell/ Mischtechnik, ca. 50 x 70 cm, entstanden 1998/ 1999).

Die eigentliche Symbolik des Chao Phraya, die ihn schließlich zum Mythos verdichtet, liegt allerdings nicht in seiner Nutzung als eine der Lebensadern der Hauptstadt. Neben den beinahe unzähligen Tempelanlagen, die sich quasi perlenschnurartig entlang des Flussufers gen Norden aufreihen, sind es vor allem auch Orte wie die ehemalige Königsstadt Ayuthhaya oder auch der königliche Sommerpalast Bang Pa-In, die, längst selbst zu mythischen Symbolen geworden, die romantische Verklärung des Flusses befördern.

Erheblich zur Förderung des Mythos Chao Phraya beigetragen haben dürften ebenso die weltweit einzigartigen Königlichen Barkenprozessionen. Zuletzt 2012, anlässlich des 85. Geburtstags von König Bhumibol Adulyadej, war der Chao Phraya Schauplatz einer solchen Zeremonie, deren Kern sowohl auf religiöse als auch gesellschaftliche Bedeutung zurückgeht. Prinz Phra Paramanuchit, Dichter, Historiker, Sohn von König Phra Phutthayotfa Chulalok (Rama I.) und seinerzeit Oberster Mönchspatriarch von Thailand, beschreibt Mitte des 19. Jahrhunderts in seinem Werk ‚Lilit Taleng Phai‘ („Die besiegten Birmanen”) den Sieg von Ayutthayas König Naresuan über die Birmanen im Jahr 1593. Anschaulich schildert er darin auch eine militärische Barkenexpedition, die der König in den Süden von Birma durchführen ließ.

...wurde erst spät zum Chao Phraya geadelt.

Thailand – oder wie es bis 1939 hieß: Siam – erlebte im Laufe der Jahrhunderte immer wieder einschneidende Veränderungen, in denen unterschiedliche Akteure die Bühne betraten, Khmer, Birmanen oder auch Chinesen, um nur die wichtigsten zu nennen. Im Jahr 1315 machte Fürst U Thong Ayutthaya zur neuen Hauptstadt seines gleichnamigen Königreichs. Begünstigt wurde dieser Schritt durch die Einsicht, dass man von hier aus das Chao-Phraya-Becken besser unter Kontrolle hatte und außerdem die Lage der neuen Hauptstadt am Ufer des Flusses die Anbindung an die Handelswege Hinterindiens begünstigte. Hinzu kam, dass Ayutthaya auf einer Insel am Zusammenfluss dreier Flüsse lag, von denen einer der heutige Chao Phraya war, so dass es gut gegen angreifende Feinde zu verteidigen war. In der Blütezeit Ayutthayas kamen viele Europäer ins Land. Einer von ihnen war der Holländer Jeremias Van Vliet, der sich Anfang des 17. Jahrhunderts in seiner Eigenschaft als Direktor des Handelskontors der Niederländischen Ostindien-Kompanie in der Stadt niederließ. Zwischen 1636 und 1640 verfasste er dort vier Bücher, die ihn zu einem der bedeutendsten Chronisten der Geschichte Siams machten.

Van Vliet überliefert auch die Geschichte, dass König Prasat Thong, der Begründer der 4. Dynastie des Königreichs Ayutthaya, ein unehelicher Sohn von König Ekathotsorot sei, der noch als Vizekönig einmal während eines Sturms mit seinem Boot auf dem Chao Phraya schiffbrüchig geworden sei. Während sich seine Entourage auf die Insel Baan Lane gerettet habe, sei der Vizekönig durch den Fluss ans andere Ufer geschwommen, wo er bei einer lokalen Schönheit mit Namen Nang In Unterschlupf gefunden habe. Erst am nächsten Morgen habe er seine Bootsfahrt fortsetzen können. Als Folge dieser Begegnung habe Nang In später einen Jungen zu Welt gebracht, dem Ekathotsorot später eine angemessene Erziehung ermöglicht habe. Als Prasat Thong hat dieser schließlich das Königreich von November 1629 bis August 1656 beherrscht. Ihm folgte sein Sohn Narai auf dem Thron. In der Geschichtsschreibung gilt er als der erfolgreichste Herrscher des Königreichs, weshalb man ihm auch den Beinamen ‚der Große‘ gab. Er entwickelte eine wohlausgewogene Balance-Politik zwischen den europäischen Mächten, die über die Jahrhunderte ein Kennzeichen der Außenpolitik Siams und Thailands werden sollte. Im Ergebnis sicherte sie Siam die Autonomie innerhalb seiner Landesgrenzen. Eine Kolonialisierung – wie etwa bei den anderen südostasiatischen Staaten – blieb dem Land deshalb stets erspart.

1678 erreichte der griechische Abenteurer Konstantin Gerakis, von der Insel Kephalonia kommend Siam. Aufgrund der freundlichen Haltung Narais gegenüber den Europäern gewann er das Vertrauen des Monarchen, so dass er später als Constantine Phaulkon (der französischen Version seines Namens) zu einem der ranghöchsten Beamten am Hof aufstieg. Vom König für seine Verdienste mit dem Titel ‚Chao Phraya‘ belohnt, machte Phaulkon als Kanzler hinterrücks Politik für Frankreich. Das rief nicht nur die Engländer auf den Plan, sondern auch die Beamten des Hofes. Aus Angst, König Narai könnte völlig unter westlichen Einfluss geraten, zettelten sie eine Palastrevolte an, und als der König schließlich 1688 starb, mussten alle Ausländer das Land verlassen. In den folgenden 120 Jahren blieb das Königreich für Fremde verschlossen. Der ‚Mae-nam‘ verkam zu einem bedeutungslosen Fluss. Das änderte sich erst wieder, als nach der Zerstörung Ayutthayas durch die Birmanen im Jahr 1769, General Taksin etwa 70 km südlich von Ayutthaya 1772 mit Thonburi am Westufer des Flusses - gegenüber dem Zentrum des heutigen Bangkoks - eine neue Hauptstadt gründete. Zu einer Zeit, als der Warentransport noch hauptsächlich über die Wasserwege abgewickelt wurde, wurde der Fluss zum ‚Chao Phraya‘, zum ‚ersten Diener‘ Siams.

Gefällt Ihnen der Artikel? Mit einem Online-Abonnement können Sie alle Teile der beliebten Serie "Thailand und seine Mythen" vollständig lesen!

Überzeugen Sie sich von unserem Online-Abo:
Die Druckausgabe als voll farbiges PDF-Magazin weltweit herunterladen, alle Artikel vollständig lesen, im Archiv stöbern und tagesaktuelle Nachrichten per E-Mail erhalten.
Pflichtfelder

Es sind keine Kommentare zum Artikel vorhanden, bitte schreiben Sie doch den ersten Kommentar.