Fehlender Impfstoff und Triage in Europa

Foto: Orlando Bellini/Fotolia.com
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Die EU-Kommission streitet derzeit mit AstraZeneca über Liefermengen. Frau von der Leyen freut sich auf Twitter über acht Millionen zusätzliche Impfdosen für das erste Quartal, während in Portugal massenweise Menschen an COVID versterben. Vertraglich zugesichert war die Lieferung von 80 Millionen Dosen für das erste Quartal. Tatsächlich geliefert werden höchstens 40 Millionen und dabei sind die acht Millionen, über die sich Frau von der Leyen freut, schon eingerechnet. In der öffentlichen Diskussion kommt man durch alle Berufsgruppen und Länder zu unterschiedlichen Einschätzungen. Wie ist der Fall zu beurteilen?

Wie im angelsächsischen Recht üblich sind zu Beginn des einschlägigen Vertrages wesentliche Begriffe des Vertrags legaldefiniert, d.h. es wird geklärt, was gemeint und gewollt ist. Im vorliegenden Fall verpflichtet sich AstraZeneca alle zumutbaren Anstrengungen zu unternehmen, um den Vertrag zu erfüllen. Im Streitfall müssen die Entscheider folglich prüfen, ob ein Unternehmen ähnlicher Größe, mit ähnlichen Ressourcen und ähnlicher Infrastruktur hätte liefern können. Der Vertrag als solches ist kein Meisterwerk, da er einerseits bestimmt, dass die ersten Dosen für die EU auch innerhalb der EU produziert werden sollen. Andererseits sichert Astra Zeneca an anderer Stelle im Vertrag zu, keine vorgehenden Verpflichtungen zu haben, welche die komplette (!) Erfüllung des Vertrages mit der EU beeinträchtigen könnte. Damit dürfte das Hauptargument von AstraZeneca vom Tisch sein. Ganz schlecht hat die EU also nicht verhandelt, auch wenn es verständliche Vorurteile gegen Frau von der Leyen als Chefeinkäuferin gibt. Für alle EU-Bürger ist auch interessant zu wissen, dass dieser Vertrag nach belgischem Recht zu beurteilen ist. Am Ende wird wahrscheinlich bei der ganzen Streiterei nicht viel herauskommen, da in der Sache bereits lange vor einer Entscheidung Erledigung durch Zeitablauf eingetreten sein dürfte. Für rechtlich Interessierte lohnt es sich dennoch dranzubleiben, vor allem mit Blick auf die Frage, wie die Entscheider den Begriff „aller zumutbarer Anstrengung“ auslegen und was sich beweisen lässt.

Während die EU um Impfdosen kämpft, trifft die dritte Infektionswelle Portugal unbarmherzig. Die Heimtücke des Virus wird dort sichtbar. 44 Prozent aller Covid-19-Todesfälle in Portugal erfolgten allein im Januar 2021. Wie im Krieg sind vor vielen Kliniken Triage-Zelte aufgebaut, wo auf Grundlage von Sauerstoffgehalt und Körpertemperatur entschieden wird, wer zuerst behandelt werden soll. Im Klartext: Es wird entschieden, wer leben darf und wer stirbt.

In einigen Ländern Europas war in den letzten Monaten die Verabschiedung von Triage-Gesetzen in der Diskussion. In Deutschland und Österreich dürfte dies aus verfassungsrechtlichen Gründen schwierig werden. Anders als beispielsweise bei Medizinern, die in klinischethischen Empfehlungen auf Erfolgsaussichten einer Behandlung abstellen, sind Nützlichkeitserwägungen durch den Gesetzgeber höchstwahrscheinlich mit der staatlichen Verpflichtung zum Schutz des Lebens und der Achtung der Menschenwürde nicht vereinbar. Auch eine unterbleibende Zuteilung von Ressourcen allein aufgrund fortgeschrittenen Alters oder geringer verbleibender Lebenserwartung scheint verfassungsrechtlich ausgeschlossen.

Geklärt werden muss auch die Frage, ob Ärzte zur Rettung eines Patienten die bereits laufende intensivmedizinische Behandlung eines anderen Patienten abbrechen dürfen, weil letzterer vielleicht schlechtere Chancen zu haben scheint (Ex-post Triage)?

Was ist folglich zu tun? Auch wenn der Gesetzgeber die Finger von einem Triage-Gesetz lassen sollte, so kann er doch Negativkriterien aufstellen, nach denen eine Patientenauswahl im Falle eines Falles nicht erfolgen darf. Wahrscheinlich ist es gar nicht schlecht, die Entscheidung im Einzelfall den behandelnden Ärzten zu überlassen. Falls der Gesetzgeber Triage-Entscheidungen nicht mit der Rechtsordnung für vereinbar hält, sollte jedoch klar geregelt sein, wann Entschuldigungsgründe für Ärzte vorliegen, um diese nicht wie im Falle der Sterbehilfe jahrzehntelang mit möglicher Strafbarkeit im Regen stehen zu lassen.

In Thailand geht es erfreulicherweise weniger aufgeregt zu. Im Februar werden die ersten chinesischen Impfstoffe von Sinovac Biotech gespritzt, gefolgt von Siam Bioscience, die sich an der Rezeptur von AstraZeneca versuchen. Möge der Kelch nun schnell an uns vorbeigehen!


Über den Autor

Christian Rasp ist Rechtsanwalt und seit 1992 in Thailand, Hong Kong und China tätig. Er leitet ein spezialisiertes Consulting Haus und ist seit 2016 als Chairman einer der ältesten digitalen Marketingagenturen in Südostasien tätig. Feedback zum Gastbeitrag per E-Mail erwünscht!

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