Zeitungen kommentieren das Weltgeschehen am Sonntag

Foto: Adobe Stock/©elis Lasop
Foto: Adobe Stock/©elis Lasop

«Süddeutsche Zeitung» zur Bundestagswahl

All die SPD-Bundestagskandidaten, für die ein Mandat monatelang illusorisch war und die es nun doch geschafft haben, dürften noch eine Zeitlang in Olaf Scholz ihren Helden sehen.

Der Unterschied zwischen 2017, dem Schulz-Effekt, und 2021, dem Scholz-Effekt, ist ja, dass letzterer gehalten hat. Aber über eine Koalition stimmen in der SPD keine dankbaren Schrodis ab, sondern die Mitglieder - die Scholz weniger verpflichtet sind und sich womöglich einreden, dieses schöne Kanzleramt nütze doch nichts, wenn in Wahrheit der Finanzminister Christian Lindner die Richtlinien der Politik bestimmt. Gegen sie kann Scholz keine Ampel durchsetzen, und im Kleinkriegen ihrer Anführer war die SPD schon immer gut.


«El País»: Adios Merkel

MADRID: Die spanische Zeitung «El País» kommentiert am Tag der Bundestagswahl das Ende von 16 Jahren Kanzlerschaft Angela Merkels:

«Seit vier Amtszeiten und 16 Jahren prägt sie die Politik mit ihrem nüchternen, pragmatischen Stil und ist dabei zugleich nah am Alltag ihrer Landsleute geblieben. Aber sie hat noch aus anderen Gründen globale Statur erlangt. Indem sie sich ständig an der politischen Mitte orientierte, betrieb sie abseits der Extreme fast immer eine vernünftige Politik.

Mit dieser Flexibilität, die in der spanischen Innenpolitik eher als Inkonsequenz und Opportunismus kritisiert würde, führte sie Koalitionsregierungen mit unterschiedlichen Partnern: dreimal Sozialdemokraten, einmal Liberale. Auf diese Weise errichtete sie auch eine Brandmauer gegen den ultrarechten Populismus. Diese Reise beinhaltete auch die Suche nach einem politischen Schwerpunkt, der Werte und Interessen, die Nation und die EU, das Nationale und das Globale, die Wirtschaft und das Soziale vereint.

Merkels Bilanz ist glanzvoll und sie hat die Gleichung von Deutschland als einem wirtschaftlichen Riesen und einem politischen Zwerg endlich aufgelöst. Es ist zwar noch Luft nach oben, aber auch in diesem Bereich ist es Merkel gelungen, Deutschland zu einer Lokomotive zu machen.»


«Corriere della Sera»: Merkels historisches Beispiel von Moral

ROM: Zum Ende der Ära Merkel in Deutschland schreibt die Tageszeitung «Corriere della Sera» aus Mailand am Sonntag:

«Die Deutschen verabschieden sich von der Mutter der Nation, die sie für fast zwei Jahrzehnte beschützt, Gefahren und Bedrohungen abgewendet, Wohlstand und Sicherheit garantiert hat. In einem etwas ironischen und spitzbübischen «Tschüss» liegen aber nicht nur Nostalgie und Dankbarkeit, sondern auch die Erkenntnis, dass man nach vorne schauen muss, dass man eine Epoche hinter sich lassen muss, die glücklich, aber nicht länger zu halten war. (...)

Es sind mehr als dreißig Jahre vergangen seit ihrem Einstieg in die Politik, sechzehn an der Spitze Deutschlands. Aber Angela Merkel ist im Grunde immer eine Wissenschaftlerin geblieben, die an die Politik nur ausgeliehen wurde, die Probleme angeht und löst, indem sie sich ihnen Schritt für Schritt nähert, auf der Basis von Daten und Fakten. Den politischen Positionen, die für sie praktisch austauschbar waren, hat Merkel immer die Werte vorgezogen: die Menschenrechte, die Freiheit, die Gleichheit in der Gesellschaft, den Multilateralismus. (...)

Ihre wahre Größe war, Deutschland so lange und felsenfest in der Spur Europas gehalten zu haben - was in vielen Ländern überhaupt nicht selbstverständlich ist - und dass sie immer mögliche Lösungen gefunden hat, ohne aber zu viel Herzblut reinzustecken. Damit hat sie ein historisches Beispiel von öffentlicher und ethischer Moral geschaffen, das es zuvor selten gab und kaum nachzumachen ist.»


«Sonntagszeitung»: Müdes Land mit brummender Wirtschaft

ZÜRICH: Zum Ende der Ära Merkel heißt es in der Schweizer «Sonntagszeitung»:

«Die Merkel-Raute, dieses Symbol neudeutscher Bescheidenheit, ist auch ein Symbol für einen Triumph des Reputationsmanagements. Vielleicht gelang ihr deshalb dieses Kunststück, weil Bescheidenheit sonst nicht die erste Eigenschaft ist, die uns Nicht-Deutschen einfällt, wenn wir an die Deutschen denken. Und sie selbst verliebten sich in diesen Rauten-Nationalismus - der zu belegen schien, neuerdings ganz klein, ganz selbstlos, ganz anders als in der ferneren Vergangenheit zu sein. (...)

Wir wissen, dass Deutschland ein ungefährliches Land ist; viel gefährlicher ist es, wenn es alles tut, um ungefährlich zu wirken. Weltmeister in der Klimarettung, Weltmeister in der moralischen Politik, Weltmeister in der Aufopferung für die EU.

Merkel tritt ab. Was bleibt? Das Staunen. Ihre Partei, die CDU: ruiniert, selbst wenn sie am Sonntag noch gewinnen sollte. Das Land? Müde, wenn nicht depressiv. Seine Wirtschaft: brummt, als wäre nichts geschehen. Wenn wir Schweizer die Deutschen für etwas bewundern, dann dafür: dass sie noch jedes Regime tüchtig überstanden haben.»


«The Observer»: In der Merkel-Ära wurden wichtige Themen ignoriert

LONDON: Zur Bundestagswahl meint die britische Sonntagszeitung «The Observer»:

«Es ist nicht zu erwarten, dass eine Partei eine Mehrheit im Bundestag erlangt. Koalitionsgespräche zur Bildung einer neuen Regierung könnten Monate dauern. In der Zwischenzeit bleibt (Angela)Merkel praktisch im Amt. Die Ungewissheit darüber, wer sie ersetzen wird, ist eine große Veränderung im Vergleich zu der oft vorhersehbaren Politik der vergangenen 16 Jahre. Aber man sollte darüber nicht allzu begeistert sein.

Weder Olaf Scholz, der die SPD, die größte Mitte-Links-Partei, anführt, noch Armin Laschet, Merkels konservativer Wunschkandidat für die Nachfolge der CDU, bieten radikal unterschiedliche Programme an. Beide Männer betonen die Kontinuität, während sie für bescheidene, schrittweise Veränderungen eintreten. Dies ist ein Problem. Im Wahlkampf sind wichtige Themen deutlich geworden, die während der Ära Merkel ignoriert wurden.»

Überzeugen Sie sich von unserem Online-Abo:
Die Druckausgabe als voll farbiges PDF-Magazin weltweit herunterladen, alle Artikel vollständig lesen, im Archiv stöbern und tagesaktuelle Nachrichten per E-Mail erhalten.
Pflichtfelder

Es sind keine Kommentare zum Artikel vorhanden, bitte schreiben Sie doch den ersten Kommentar.