Zeitungen kommentieren das Weltgeschehen am Mittwoch

Foto: Adobe Stock/©elis Lasop
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«Frankfurter Allgemeine Zeitung» zu Steinmeier/Ökumenischer Rat

Eindringlichere Worte als die, mit denen (.) Steinmeier am Mittwoch die 11.

Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen eröffnet hat, hätte kein Politiker und kein Kirchenführer wählen können. (.) Mit noch größerer Verve ging der evangelische Christ mit der Führung der russisch-orthodoxen Kirche (ROK) ins Gericht, rechtfertige diese doch einen Angriffskrieg gegen die eigenen Schwestern und Brüder im Glauben, mache sich mit den Verbrechen des Putin-Regimes gegen die Ukraine gemein und huldige einer als Theologie verbrämten totalitären Ideologie. (.) Auch den Emissären von Papst Franziskus, der seit Jahren dem russischen Patriarchen Kyrill den Hof macht, hielt er einen Spiegel vor. (.) So wirkte es fast als Vermächtnis, als Steinmeier von dem Bauen von Brücken als einer zutiefst christlichen Haltung sprach. (.).


«Süddeutsche Zeitung» zu den Beschlüssen von Meseberg

Am Mittwoch aber blitzte erstmals wieder etwas auf, das man vorsichtig einen gemeinsamen Nenner nennen könnte.

Christian "Ich kenne Übergewinne" Lindner will nun "Extra-Gewinne" auf dem Strommarkt abschöpfen - und der Grüne Robert Habeck auch, obwohl es sich um Gewinne von Wind- und Solarstromproduzenten handelt. Auch für ein bundesweites Nahverkehrsticket zeichnet sich offenbar eine Lösung ab. Anderes blieb vage, aber vielleicht kommt ja tatsächlich ein "sehr präzises, sehr maßgeschneidertes Entlastungspaket". Die Kritik der vergangenen Woche muss man dann nicht zurücknehmen. Trotzdem könnte man freundlich festhalten: Geht doch.


«Frankfurter Rundschau» zum Tod von Michail Gorbatschow

Gorbatschow ist tot.

Nun gilt es für Europa, insbesondere für Deutschland, sein historisches Erbe hochzuhalten. Der frühere Sowjetführer bekam zu Recht 1990 den Friedensnobelpreis mit der Begründung, er habe daran mitgewirkt, dass "die Konfrontation der Blöcke" zwischen Ost und West durch Verhandlungen ersetzt worden sei und "alte europäische Nationalstaaten ihre Freiheit wiedergewonnen" hätten. Das war nur wenige Wochen nach der deutschen Wiedervereinigung, die wie auch die friedliche Revolution und der Mauerfall ohne Gorbatschow nicht möglich gewesen wäre. Danach lief vieles falsch und schon mal gar nicht friedlich wie beispielsweise der Unabhängigkeitskampf Litauens gegenüber Moskau. Gorbatschows großer Verdienst aber bleibt, dass er Europa 30 Jahre Frieden sowie den osteuropäischen Ländern Demokratie, Freiheit und wachsenden Wohlstand beschert hat. Nur leider konnte er diese Werte in seinem eigenen Land nicht verankern. Dafür gab er aus guten Gründen dem Westen Mitschuld.


«Handelsblatt» zur Euro-Inflationsrate von 9,1 Prozent

Die Rückkehr der Inflation ist eine Zäsur, deren Auswirkungen auf die Wirtschaftsakteure, die Schuldentragfähigkeit der Staatshaushalte und die Finanzmärkte bei Weitem noch nicht abzuschätzen sind.

Es ist ein neues Spiel, Geld hat wieder einen Preis. Strukturelle Gründe für langfristig hohe Inflationsraten gibt es genug: Da ist die Dekarbonisierung der Wirtschaft, die ihre inflationäre Kraft noch entfalten wird. Da sind die Knappheiten an den Arbeitsmärkten, die die Löhne treiben. Und da ist das Ende des Globalisierungstrends- die Inflationsbremse der vergangenen Dekaden. Es ist höchste Zeit, dass Lagarde in diesem Umfeld ein starkes Signal sendet. Worte reichen nicht mehr, jetzt zählen Taten: ein großer Zinsschritt von 0,75 Prozentpunkten in der kommenden Woche wäre ein Anfang.


«Rzeczpospolita»: Gorbatschows Reformen begruben die Sowjetunion

WARSCHAU: Zum Tod von Michail Gorbatschow schreibt die polnische Tageszeitung «Rzeczpospolita» in ihrer Online-Ausgabe am Mittwoch:

«Michail Gorbatschow war ein Kind des Systems. Er war ein überzeugter Anhänger des Kommunismus, den er eigentlich nur menschlicher gestalten wollte. Herrscher seines Reiches war er nur sechs Jahre. Diese kurze Zeit reichte aus, dass Meinungsfreiheit, Parlamentarismus und freie Wahlen - die unvorhergesehenen Ergebnisse seiner Reformen - das Reich selbst begruben und ihn zum Rücktritt zwangen.

Für einige blieb er der Bote des Friedens, der den Krieg in Afghanistan beendete, sich weigerte, die untergehenden kommunistischen Regime in Mitteleuropa militärisch zu unterstützen, und der deutschen Wiedervereinigung zustimmte. Doch im heutigen Russland werfen ihm die Menschen vor, er habe «ein so schönes Land zerstört», weil er zu wenig Gewalt angewendet hat. Vermutlich hat er sich selbst geärgert, dass es ihm nicht gelungen ist, die Einheit der UdSSR zu erhalten. Obwohl im Nachhinein klar ist, dass er dazu keine Möglichkeit gehabt hätte. Vielleicht, wenn er beschlossen hätte, alle Proteste - von Litauen bis Kasachstan - in einem Meer von Blut zu ertränken. Aber das konnte er nicht, weil er glaubte, dass der Sozialismus ein «menschliches Antlitz» haben soll und nicht nur Militärstiefel.»


«WSJ»: Salomonen sollten Freundschaft zu Peking sorgfältig überdenken

NEW YORK: Zum Sicherheitsabkommen zwischen China und dem Inselstaat der Salomonen im Pazifik sowie dem damit verbundenen Einfluss Pekings in der Region schreibt das «Wall Street Journal»:

«Peking kommt mit Sicherheit mit dem «Sicherheitspakt», den es im Frühjahr mit einem winzigen Pazifikstaat unterzeichnet hat, voll auf seine Kosten. So haben die Salomonen in den vergangenen Tagen damit begonnen, Hafenbesuche von Schiffen der USA und ihrer Verbündeten abzulehnen. (...) Die Regierung von (US-Präsident Joe) Biden hat die Gefahr nur langsam erkannt, obwohl sie jetzt mehrere Beamte zu einer Reihe von Besuchen in die Pazifikregion entsandt hat. Vergangenen Monat kündigte Washington die Eröffnung zweier neuer Botschaften in den südpazifischen Staaten Kiribati und Tonga an und stellt mehr Finanzhilfe für die Region bereit.

Die USA müssen zeigen, dass sie ein beständiger Verbündeter in einer Region sein können, die sie oft übersehen haben. (...) Die Regierungen der pazifischen Inseln aber sind es ihren Bürgern schuldig, bei der Abwägung zwischen der Zusammenarbeit mit China und Bündnissen mit dem Westen vorsichtig zu sein. Die USA sind ein Verbündeter, der sich ablenken lässt. Aber China kann ein ruinöser Verbündeter sein, besonders wenn die Zahlungen für seine kreditbasierten «Investitionen» fällig werden. Fragen Sie Sri Lanka. Die Salomonen täten gut daran, ihre Freundschaft mit Peking sorgfältig zu überdenken.»


«Le Figaro»: Energiekrise in Frankreich durch Opfer bei Atomkraft

PARIS: Zur aktuellen Energiesituation in Frankreich schreibt die konservative französische Tageszeitung «Le Figaro» am Mittwoch:

«Sparen und Rationierungen werden unseren Alltag diesen Winter prägen, während Gas und Strom ein Vermögen kosten und fehlen werden. Der Not geschuldet, gibt es keinen Zweifel, dass die Franzosen sich diesen neuen Anforderungen beugen werden. Sie hätten jedoch gute Gründe, ihre Wut zum Ausdruck zu bringen und Erklärungen zu verlangen.

Wie kann einem Strom fehlen, wenn man über einen der stärksten Atomparks der Welt verfügt? Durch welches Wunder kommt die Explosion der Rechnungen, während die Meiler die Kilowattstunde zum niedrigsten Preis produzieren? «Das ist die Schuld (des russischen Präsidenten Wladimir) Putins!» Wirklich?

Es ist nicht zu leugnen, dass der Krieg in der Ukraine einen Einfluss auf den Energiemarkt hat. Putin, der vor allem die Deutschen in seiner Hand hält, sät systematisch Durcheinander in der Versorgung Europas. Aber die tröpfchenweise Lieferung russischen Gases trifft Frankreich kaum. Die Wahrheit ist, dass wir für kleine politische Deals mit den Grünen seit 15 Jahren einen Teil unserer Atomkraft, die unsere Energieunabhängigkeit sicherte, freiwillig geopfert haben.»


«Sydney Morning Herald»: Gorbatschow erlebte das Ende seines Traums

SYDNEY: Zum Tod von Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow schreibt die australische Zeitung «Sydney Morning Herald» am Mittwoch:

«Gorbatschow hat einen unerschütterlichen Platz in der Geschichte. Er war eine jener seltenen Persönlichkeiten, die die Geopolitik ihrer Zeit zum Vorteil vieler und grundlegend umgestaltet haben. Es ist jedoch ernüchternd, sich daran zu erinnern, dass Gorbatschow, als er 1996 für das Amt des russischen Präsidenten kandidierte, weniger als ein Prozent der Stimmen erhielt - so sehr waren seine Aktien im eigenen Land gefallen. Vielleicht war es seine private Tragödie, lange genug gelebt zu haben, um zu sehen, wie sein Traum von einem gütigeren, offeneren und weltoffeneren Russland zerronnen ist.»


«Nepszava»: Auch ein Trump ist kein König

BUDAPEST: Über eine mögliche Anklage gegen den früheren US-Präsidenten Donald Trump wegen seines Umgangs mit vertraulichen Regierungsdokumenten schreibt die links-liberale Budapester Tageszeitung «Nepszava» am Mittwoch:

«Den bisher bekannt gewordenen Fakten zufolge hat Trump auch super-geheime Dokumente mitgenommen, die im Weißen Haus nicht einmal den Ort hätten verlassen dürfen, wo sie aufbewahrt wurden. (...) Einige seiner Verbündeten meinen nun, man dürfe Trump nicht zur Verantwortung ziehen, weil sonst seine Anhänger auf die Straße gehen würden. Die Gefahr von Protesten und Krawallen ist real. Doch dagegen ist abzuwägen, dass eine Quasi-Monarchie droht, wenn für den Inhaber der absoluten Macht keine Gesetze gelten, nicht einmal die eigenen. Das weist über Amerika hinaus. Die Verantwortung der Biden-Administration besteht nicht nur darin, die Demokratie zu bewahren, sondern auch zu zeigen, dass sie stark und schlagkräftig ist. Deshalb muss Trump vor Gericht gestellt werden.»


«La Vanguardia»: Franziskus wird seine Mission nicht aufgeben

MADRID: Zur Kardinalsvollversammlung im Vatikan und den Gerüchten um einen möglichen Rücktritt von Papst Franziskus schreibt die spanische Zeitung «La Vanguardia» am Mittwoch:

«Wird der Papst zurücktreten? Franziskus ist 85 Jahre alt, er ist aufgrund von komplexen Knieproblemen auf einen Rollstuhl angewiesen und sein Pontifikat wird von schwern internen Kämpfen geprägt (...) Hinzu kommt die offensichtliche Krise, in der sich die katholische Kirche zumindest in Europa befindet, mit einem Mangel an Berufungen, einer zunehmenden Abkehr der Gläubigen und einem starken journalistischen Druck wegen des schmerzhaften Themas der Pädophilie. Das alles nährt das hartnäckige Gerücht, dass der argentinische Pontifex angeblich kurz vor seinem Rücktritt steht (...) Aber ungeachtet der Kardinalsvollversammlung und des jüngsten Besuchs (am Grab) des ersten zurückgetretenen Papstes Coelestins V. hat Franziskus eine Mission - und er wird diese nicht aufgeben. Es sei denn, er wird aufgrund höherer Gewalt dazu gezwungen.»


«De Standaard»: Schlacht um Cherson wäre auch eine Schlacht um Moskau

BRÜSSEL: Die belgische Zeitung «De Standaard» kommentiert am Mittwoch Versuche der ukrainischen Armee, die Stadt Cherson zurückzuerobern:

«Sollte diese Offensive Erfolg haben, müssten die russischen Streitkräfte Cherson verlassen und sich Hals über Kopf auf die andere Seite des Flusses Dnipro zurückziehen. Eine derartige militärische Niederlage würde mindestens ebenso schmerzen wie der Rückzug Ende März, als russische Einheiten nach dem missglückten Angriff auf Kiew in den Osten und Süden des Landes verlegt werden mussten. In symbolischer Hinsicht ist es nicht belanglos, dass die russischen Behörden in Cherson am 11. September eine Referendum über die Angliederung an Russland abhalten wollen. Putin läuft also Gefahr, eine Stadt und eine Region zu verlieren, deren Anschluss an sein erträumtes Groß-Russland er versprochen hatte. (...)

Vielmehr sieht es danach aus, dass der angestaute Frust zu großen internen Spannungen führen wird, die Putin kaum noch beherrschen kann. Das Resultat eines solchen Machtkampfes ist unvorhersehbar, aber die Chance, dass es auf absehbare Zeit zu einem stabileren Russland kommt, scheint sehr klein zu sein. In diesem Sinne würde eine Schlacht um Cherson wohl auch eine Schlacht um Moskau werden.»


«The Guardian»: Humanitäre Krise in der Ukraine nimmt zu

LONDON: Zum Kriegsverlauf in der Ukraine schreibt der Londoner «Guardian» am Mittwoch:

«Die Erklärung eines ukrainischen Militärsprechers, dass ein seit langem erwarteter Gegenangriff im Süden begonnen habe, war ein bemerkenswerter Moment sechs Monate nach Beginn des Krieges. Das ukrainische Kommando im Süden erklärte, Russland habe schwere Verluste an Personal und Ausrüstung erlitten (während das russische Verteidigungsministerium behauptete, es habe den Ukrainern schwere Verluste zugefügt). (...) Das Ausmaß der Gegenoffensive ist alles andere als klar. Ein ukrainischer Behördenvertreter sprach von «normalen Operationen», und einige der Kämpfenden haben angedeutet, dass es sich bei den Angriffen nicht um eine vollständige Gegenoffensive handelt. (...) Unterdessen nimmt die humanitäre Krise zu. Da Russland nicht in der Lage ist, rasche militärische Fortschritte zu erzielen, hat es sich möglicherweise auf die formelle Bekräftigung der Annexion und auf wirtschaftliche Sanktionen verlegt. Kiew befürchtet, dass Russland sein Energienetz angreifen und das Kernkraftwerk Saporischschja abschalten könnte. Manche meinen, dass in diesem Winter bis zu zwei Millionen Ukrainer nach Polen fliehen könnten. So unklar die militärische Lage auch ist, die brutalen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung könnten nicht deutlicher sein.»


«de Volkskrant»: Pakistan kann zu Recht westliche Hilfe erwarten

AMSTERDAM: Die niederländische Zeitung «de Volkskrant» kommentiert am Mittwoch die Flutkatastrophe in Pakistan:

«Überschwemmungen in Belgien und Deutschland lösen mehr Mitgefühl aus als jene in einem Land, wo man noch nie Urlaub gemacht hat und über das man eigentlich sowieso nur Berichte von Elend und Katastrophen liest. Es ist verständlich, dass nicht jeder Niederländer sofort aufspringt, um sich für Pakistan einzusetzen. Doch das Land kann zu Recht Hilfe erwarten - sicher seitens der reichen westlichen Länder, die die größte Verantwortung für die Erderwärmung tragen. (...)

Allerdings muss Pakistan sich auch den Spiegel vorhalten lassen, denn seine Behörden haben fast nichts unternommen, um das Land vor Katastrophen zu schützen. (...) Doch darf dies für den Rest der Welt kein Grund sein, Pakistan seinem Schicksal zu überlassen. Westliche Hilfe ist bislang kaum in Gang gekommen, obwohl den Menschen das Wasser im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Hals steht und der Westen dafür eine Mitverantwortung trägt. UN-Generalsekretär António Guterres hat zur Solidarität aufgerufen. Darauf sollten wir großzügig reagieren.»


«Kommersant»: Lob und Schmähung für Gorbatschow

MOSKAU: Zum Tod des ehemaligen sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow schreibt die russische Tageszeitung «Kommersant» am Mittwoch auf ihrer Internetseite:

«Michail Gorbatschow, der 30 Jahre vor seinem Tod sein Amt im Kreml niederlegte, musste sowohl mit Lob als auch mit Schmähung umgehen. Ein Großteil des Lobes galt seiner Außenpolitik, mit der er dazu beitrug, dass sich die damaligen beiden Supermächte im Rahmen einer Doktrin der nuklearen Abschreckung nicht weiter auf den Abgrund zubewegten, und die zum Zusammenbruch der politischen Abhängigkeit Mittel- und Osteuropas von der Sowjetunion führte, einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands. Dieser Außenpolitik wurde gleichermaßen vorgeworfen, den Verlust des sowjetischen Einflussbereichs in Kauf genommen und quasi die Voraussetzungen für die Osterweiterung der Nato geschaffen zu haben. (...)

Seitdem es im russischen politischen Mainstream üblich wurde, den Zerfall der UdSSR nicht so sehr als Triumph der Demokratie über den Totalitarismus und des Marktes über die Planwirtschaft, sondern als katastrophales Ereignis anzusehen, hätte Michail Gorbatschow, den die öffentliche Meinung beharrlich mit der Zerstörung der UdSSR assoziiert, zu einer marginalen Figur werden müssen. Das ist jedoch nicht geschehen, denn er hat unermüdlich öffentlich daran erinnert, dass sein politisches Hauptziel 1991 überhaupt nicht der Machterhalt war, sondern die Rettung der Sowjetunion.»


«NZZ»: Ukraine braucht über Jahre Waffen- und Finanzhilfe

ZÜRICH: Die «Neue Zürcher Zeitung» kommentiert am Mittwoch den Kriegsverlauf in der Ukraine:

«Wer Erwartungen zu hoch schraubt, riskiert Enttäuschungen. Zu spektakulären, großräumigen Gegenoffensiven sind die ukrainischen Truppen vor dem nächsten Jahr wohl kaum in der Lage. (...)

Zu erwarten ist kein Blitzkrieg, sondern eine langsame Schwächung der Russen, eine Taktik der «tausend Bienenstiche», wie es kürzlich ein ukrainischer Präsidentenberater formulierte. Aber selbst wenn dies gelingt, gilt es einen Punkt im Auge zu behalten: Ein Rückzug der Russen aus den Gebieten westlich des Dnipro wäre für den Kreml ein herber Rückschlag, aber keineswegs eine Vorentscheidung in diesem Krieg. Denn der Dnipro würde damit zur neuen Front - ein natürliches Hindernis, das die ukrainische Armee auf absehbare Zeit nicht überwinden kann.

Kein Wunder, fehlt dieser Aspekt im Kiewer Propagandabild völlig. Auch Selenskyj hat kein Rezept, wie er das Versprechen einer vollständigen Befreiung seines Landes erfüllen will. Gelingen kann dies der Ukraine nur, wenn sie über Jahre großzügige Waffen- und Finanzhilfe aus dem Westen erhält.»


«Ein tragischer Held»: Die internationale Presse zum Tod Gorbatschows

MOSKAU: Friedensbringer, Kommunist, Held - mit diversen Zuschreibungen berichten Medien rund um den Globus über den Tod des sowjetischen Staatschefs Michael «Gorbi» Gorbatschow.

Der russische Friedensnobelpreisträger und ehemalige sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow ist am Dienstagabend im Alter von 91 Jahren gestorben. Hier internationale Pressestimmen zu seinem Tod:

Russland

«Kommersant»: «Michail Gorbatschow, der 30 Jahre vor seinem Tod sein Amt im Kreml niederlegte, musste sowohl mit Lob als auch mit Schmähung umgehen. Ein Großteil des Lobes galt seiner Außenpolitik, mit der er dazu beitrug, dass sich die damaligen beiden Supermächte im Rahmen einer Doktrin der nuklearen Abschreckung nicht weiter auf den Abgrund zubewegten und die zum Zusammenbruch der politischen Abhängigkeit Mittel- und Osteuropas von der Sowjetunion führte - einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands. Dieser Außenpolitik wurde gleichermaßen vorgeworfen, den Verlust des sowjetischen Einflussbereichs in Kauf genommen und quasi die Voraussetzungen für die Osterweiterung der Nato geschaffen zu haben.»

Großbritannien

Die Londoner «The Times» lobt Gorbatschow als einen Staatsmann, «der Frieden mit dem Westen schloss und den Preis dafür zahlte. Nur wenige Staatsmänner des 20. Jahrhunderts hatten einen solchen Einfluss im In- und Ausland, und nur wenige haben ein solches Vermächtnis hinterlassen. (...) Michail Gorbatschow, der letzte sowjetische Führer, wird im Westen als der Mann gefeiert, der den Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus herbeiführte und den Kalten Krieg beendete.»

Polen

Die polnische Tageszeitung «Rzeczpospolita» schreibt: «Michail Gorbatschow war ein Kind des Systems. Er war ein überzeugter Anhänger des Kommunismus, den er eigentlich nur menschlicher gestalten wollte. (...) Vermutlich hat er sich selbst geärgert, dass es ihm nicht gelungen ist, die Einheit der UdSSR zu erhalten. Obwohl im Nachhinein klar ist, dass er dazu keine Möglichkeit gehabt hätte. Vielleicht, wenn er beschlossen hätte, alle Proteste - von Litauen bis Kasachstan - in einem Meer von Blut zu ertränken. Aber das konnte er nicht, weil er glaubte, dass der Sozialismus ein «menschliches Antlitz» haben soll und nicht nur Militärstiefel.»

Ungarn

«Magyar Nemzet» schrieb: «Gorbatschow ließ den Geist aus der Flasche, doch die auf diese Weise entfesselten Kräfte fegten auch ihn hinweg. (...) In seiner Heimat verbindet ein beträchtlicher Teil der Menschen mit seinem Namen den Zusammenbruch der Sowjetunion und das darauffolgende Chaos. Doch aufgrund seines Lebenswegs und seiner Taten respektiert ihn die Welt bis heute als Persönlichkeit (...).

Frankreich

«Le Monde» in Paris kommentiert: «Der im Westen verehrte Michail Gorbatschow lebte in Russland seit seinem Ausscheiden aus der Politik im Jahr 1991 fast anonym. Der Gipfel des Paradoxen: Der Architekt der Ost-West-Annäherung begeisterte die Massen in Europa, während er in seiner Heimat Gleichgültigkeit hervorrief.»

Spanien

«El Mundo»: «Gorbatschow war ein tragischer Held, der kluge Entscheidungen traf, die aber gleichzeitig seinen Handlungsspielraum als Herrscher einschränkten. Er sprach mehrmals über seine Entscheidung, den sowjetischen Truppen nicht zu befehlen, den Fall der Berliner Mauer aufzuhalten - oder zu versuchen, ihn aufzuhalten.»

Italien

In der «Corriere della Sera» zu lesen: «Er ein tragischer Held, ein Riese ohne Frieden, ein Kommunist, der den Kommunismus begrub, indem er ihn zu retten versuchte, ein Patriot, der trotz bester Absichten das Grab bereitete für den ersten sozialistischen Staat der Geschichte. (...), der Mann, der wie Ikarus glaubte, sich der Sonne nähern zu können, dabei aber sich selbst und sein Werk zerstörte, das er doch erhalten wollte.»

Von der «La Stampa» hieß es: «Wenn es so ist, wie der große israelische Autor Amos Oz einmal sagte, dass man ein Verräter werden - oder sein - muss, um die Welt zu verändern, dann war Michail Gorbatschow der größte von allen, zumindest in den letzten 80 Jahren.»

Australien

«Sydney Morning Herald» schreibt: «Es ist (...) ernüchternd, sich daran zu erinnern, dass Gorbatschow, als er 1996 für das Amt des russischen Präsidenten kandidierte, weniger als ein Prozent der Stimmen erhielt - so sehr waren seine Aktien im eigenen Land gefallen. Vielleicht war es seine private Tragödie, lange genug gelebt zu haben, um zu sehen, wie sein Traum von einem gütigeren, offeneren und weltoffeneren Russland zerronnen ist.»

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