Zeitungen kommentieren das Weltgeschehen am Mittwoch

Zeitungen kommentieren das Weltgeschehen am Mittwoch

«Financial Times»: Biden war noch keinem Stresstest ausgesetzt

LONDON: Die Londoner «Financial Times» beschäftigt sich am Mittwoch mit den Wahlchancen von Joe Biden:

«Joe Biden ist der ewige Moderate in einer Partei mit einem immer entschlosseneren linken Flügel. Nicht nur in Fragen der Identität, sondern auch der Wirtschaft muss er die Protestbewegung, die rastlos Veränderungen fordert, mit den Vorstädtern versöhnen, die 2018 bei den Zwischenwahlen für die Demokraten stimmten. Derzeit kann noch jede Seite ihre eigenen Vorstellungen auf Biden projizieren. Je konkreter er jedoch wird, desto größer das Risiko, dass er eine von ihnen enttäuscht. Seine Entscheidung über den Kandidaten für den Vizepräsidentenposten wird lediglich der erste von vielen risikobehafteten Momenten sein, die noch vor ihm liegen. Sein Wahlkampf war bislang geschmeidig, sogar meisterhaft. Aber er war noch keinem Stresstest ausgesetzt.»


«Süddeutsche Zeitung» zur Mehrwertsteuersenkung

Die Steuersenkung steht für einen wichtigen Schwenk in der deutschen Wirtschaftspolitik: Der Staat kann die Rettung der Wirtschaft nicht wie in der Euro-Krise der Europäischen Zentralbank überlassen, sondern muss ein Akteur sein, der Milliarden bewegt.

Am besten gestützt auf gute ökonomische Argumente und die moderne Forschung, die ziemlich konsensual die Mehrwertsteuersenkung als positiven Versuch bewertet. Den hätte auch Europa verdient, nicht nur Deutschland. Das deutsche Konjunkturpaket könnte dazu beitragen, dass die hiesige Wirtschaft den europäischen Partnern enteilt - was die Spannungen in der EU verschärfen könnte. Eine europäisch abgestimmte Mehrwertsteuersenkung wäre aufwendig, aber gut für Europa und für Deutschland.


«El Mundo»: Die Welt schaut Maduros Treiben tatenlos zu

MADRID: Zur Entscheidung des Obersten Gerichts in Venezuela, die Partei von Oppositionsführer Juan Guaidó unter neue Führung zu stellen, schreibt die spanische Zeitung «El Mundo» am Mittwoch:

«Die Tatenlosigkeit der internationalen Gemeinschaft, insbesondere der USA und der EU, die von der Pandemie weiter intensiviert wurde, stattet den Tyrannen (Nicolás Maduro) mit einer solchen Straffreiheit aus, die dieser nun genutzt hat, um besonders weit zu gehen. Er hat den Vorstand der Partei von Guaidó entmachtet und ihn durch Strohmänner ersetzt, die dem Chavismus nahestehen. Das war nicht nur ein Schritt mehr bei der Verschärfung der Diktatur von Maduro, sondern eine Herausforderung an alle Länder, die Guaidó als legitimen Übergangspräsidenten anerkennen. Der Nachfolher von (Hugo) Chávez hat eine Parlamentswahl angekündigt, die eine Farce ist, bei der er keine Rivalen haben wird, weil er bereits die Spitzen aller Parteien entmachtet hat. Und die Welt beobachtet tatenlos diese kriminelle Abdrift.»


«Lidove noviny»: Krieg zwischen Progressiven und Konservativen

PRAG: Die konservative Zeitung «Lidove noviny» aus Tschechien schreibt am Mittwoch zum Streit um rassistische Denkmäler in den USA:

«Denkmäler sind Zeugnisse der Zeit, in der sie gebaut wurden. Deshalb werden sie mitunter geschliffen. Doch der aktuelle Krieg um die Monumente zeugt noch von etwas anderem. Heute sehen wir auf der einen Seite den Wahnsinn einer ideologisierten Masse, auf der anderen Seite staatliche Behörden, die es aufgegeben haben, Gesetze und Regeln durchzusetzen. (...) In den USA haben Vandalen eine Statue für Frederick Douglass, einen Anführer der schwarzen Amerikaner im 19. Jahrhundert, gestürzt. Ist das ein Ausdruck von Rassismus? Oder ein Rachefeldzug im Krieg zwischen Progressiven und Konservativen? (...) Wenn es möglich ist, straflos nicht nur die Denkmäler der Sklavenhalter, sondern auch der Entdecker Amerikas, der Gründerväter der USA und der Sieger über Hitler zu schänden, (...) warum sollte dies dann nicht auch unter umgekehrten Vorzeichen möglich sein? Warum sollte ein anderer Stamm - um es übertrieben zu sagen - nicht auch sein Blut rächen wollen?»


«The Times»: Komplizenschaft westlicher Unternehmen

LONDON: Internationale Unternehmen sollten wegen der Menschenrechtslage in Chinas Region Xinjiang ihre Geschäftsbeziehungen überdenken, meint die Londoner «Times» am Mittwoch:

«Die Tragödie von Xinjiang wird auch wegen einer Komplizenschaft des Westens andauern. Deutsche Unternehmen wie Volkswagen wurden in die Provinz gelockt, um dort die anämische Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Sie argumentieren, dass in ihren Fabriken keine Zwangsarbeiter beschäftigt werden, und dass sie allein aus wirtschaftlichen Gründen geöffnet bleiben. Aber das geht am Thema vorbei. Der Glaube, dass die Anziehungskraft des internationalen Kapitals China zu Offenheit und demokratischen Reformen bewegen könnte, ist durch die Ereignisse in Hongkong und Xinjiang widerlegt worden. Ein explosionsartiges Wachstum veranlasste Peking zu dem Gefühl, über dem Gesetz zu stehen, und nicht zu mehr Verantwortungsbewusstseins. Daran wird sich auch nichts ändern, solange westliche Unternehmen dort bleiben.»


«Dagbladet»: Wir müssen uns nach dem Virus richten

OSLO: Die norwegische sozialliberale Boulevardzeitung «Dagbladet» (Oslo) kommentiert am Mittwoch die Lage im Kampf gegen das Coronavirus:

«Der allerlauteste Corona-Leugner, Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro, ist positiv auf das Coronavirus getestet worden. Er hat das Virus als «nur eine kleine Grippe» bezeichnet und das Land offengehalten, mit katastrophalen Folgen für die Bevölkerung. Ein anderer, der das Virus auf die leichte Schulter nahm und dann erkrankte, war der britische Regierungschef Boris Johnson. Das nur zur Orientierung. Bis wir letztlich einen effektiven und billigen Impfstoff bekommen, ist das Virus gekommen, um zu bleiben. Bis auf Weiteres müssen wir uns nach dem Virus richten. Die Alternative wäre, dass es uns alle erwischt. Und das ist, wenn wir darüber nachdenken, keine wirkliche Alternative. Norwegen und Europa öffnen sich jetzt. Das ist gut und notwendig. Aber diejenigen, die glauben, dass die Welt damit wieder normal wird, müssen sich der Wirklichkeit stellen.»


«de Volkskrant»: Macron hat Hoffnungen nicht erfüllt

AMSTERDAM: Die niederländische Zeitung «De Volkskrant» kommentiert am Mittwoch die Regierungsumbildung in Frankreich:

«Vor knapp drei Jahren war Emmanuel Macron die große Hoffnung des liberalen, EU-freundlichen und anti-populistischen Europa. Jung, energisch, intelligent, nuanciert. Von dieser Hoffnung ist wenig übrig geblieben. Seine Reformagenda für Frankreich stieß auf den Widerstand der Gelbwesten. Dann brachte die Corona-Krise seine Pläne durcheinander.

Um seiner Politik neues Leben einzuhauchen, hat Macron nun seinen Ministerpräsidenten und mehrere Minister ausgewechselt. Das ist ein probates Mittel der französischen Politik, das allerdings selten zu den gewünschten Resultaten führt. Auch jetzt ist schwer zu erkennen, wie diese neue Regierung der Amtszeit von Macron neuen Elan verleihen kann. Der französische Präsident hat stets erklärt, er sei «weder rechts noch links». Aber für viele linke Wähler hat er sich in den vergangenen drei Jahren zu stark nach rechts geneigt. Auch deshalb hat seine Partei die Kommunalwahlen an die Grünen verloren.»


«Nesawissimaja»: Fall Safronow ist Versuch der Einschüchterung

MOSKAU: Zur Festnahme des bekannten russischen Journalisten und Roskosmos-Beraters Iwan Safronow schreibt die Zeitung «Nesawissimaja Gaseta» am Mittwoch in Moskau:

«Safronow wurde als Journalist berühmt. Jetzt wirft ihm der FSB vor, einem Geheimdienst eines Nato-Landes Staatsgeheimnisse gesammelt und übermittelt zu haben. Die Festnahme ist vor allem für die Medienkollegen sehr schmerzlich, und deshalb sehen viele Reporter Parallelen zu dem unglaublichen Fall Iwan Golunow. (...)

Damals ermittelte man gegen den Journalisten Golunow wegen Drogen, einfach um ihn vor Gericht zu bringen. Der Fall verursachte eine große öffentliche Resonanz, was Erfolg brachte. Die Anklage wurde dann fallen gelassen und mehrere Polizeibeamte hohen Ranges wurden sogar abgesägt. (...) Die Fälle sind natürlich sehr unterschiedlich. Dass dies aber so regelmäßig geschieht, kann ein Symbol für den wachsenden Druck der Behörden auf Medienmitarbeiter und ein Versuch der Einschüchterung von Reportern in Russland sein.»


«La Repubblica»: Bolsonaro zahlt den Preis

ROM: Zur Coronavirus-Infektion von Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro schreibt die italienische Zeitung «La Repubblica» am Mittwoch:

«Es dauerte fast fünf Monate, 132 Tage der Gegensätze und Kontroversen, der trivialen Bewertungen, Leugnungen und der Realitätsverweigerung. Der entlassenen Minister und Wissenschaftler, die in die Enge getrieben wurden. Der Versammlungen auf großen Plätzen, der Kundgebungen, der Szenen zu Pferd, auf einem Jetski, der Feste und Gelächter. Der Hetze in sozialen Medien. Mit nur einem Ziel: Covid-19 herunterzuspielen, die Verwendung von Masken und Sicherheitsabstand zu verhindern, den 210 Millionen Brasilianern zu verkünden, dass das Monster, das die Welt angegriffen hat, eine große Falle im weltweiten Wirtschaftskrieg ist. Eine kleine Grippe. Dem ist nicht so. Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro bezahlt nun für die Leichtigkeit, mit der er der Pandemie des Jahrhunderts persönlich begegnet ist.»


«Tages-Anzeiger»: Vermittlerrolle reicht Erdogan nicht

ZÜRICH: Zur Rolle der Türkei im Libyen-Konflikt heißt es am Mittwoch im Zürcher «Tages-Anzeiger»:

«Mit der Rolle einer Mittelmacht als Gelenk zweier Kontinente gibt sich dieser Präsident nicht zufrieden. Die mit dem Ende des Kalten Kriegs erwachsene Vermittlerrolle zwischen Europa, Nahost, dem Kaukasus und Zentralasien reicht nicht: Erdogan wird nachgesagt, dass er die Türkei im Kreis der islamischen Staaten in der Vormachtrolle des früheren Osmanen-Reichs sehe. Das klingt nach «Make Turkey great again». Dazu passt, dass Ankara sich im weit entfernten Bürgerkriegsland Libyen festsetzt, mit der Pro-forma-Regierung ein Abkommen schließt und deren Krieg fortsetzen will. Aber in fernen Ländern Krieg zu führen, ist keine Frage allein von Chuzpe und Sendungsbewusstsein, sondern auch von Infrastruktur, Truppen und vor allem von funktionierenden Nachschublinien quer über das Mittelmeer. Am Letzteren mangelt es der Türkei.»

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