Saturn versöhnen

Saturn versöhnen

Vor Zeiten gab es einen Abt. Er war klug. Wohlerfahren war er in der Kunst der Weissagung. Ein Mann kam zu ihm mit der Bitte, ihm sein Schicksal zu deuten. Als der Abt sich nach Tag, Monat und Jahr der Geburt seines Gastes erkundigte, musste er zu seiner Überraschung feststellen, dass er selbst unter der gleichen Konstellation geboren war. Was er sah, bedeutete großes Unglück. Er sprach:

"Saturn kreuzt deine Lebensbahn. Das bringt dich in größte Gefahr. Da gibt es kein Entrinnen. Erlöst werden kannst du kaum. Das Verhängnis, das dir droht, hat seinesgleichen nicht. Unerhört ist das Leiden, das du erdulden musst. Dein Schicksal ist besiegelt”

Der Abt musste Atem schöpfen. Dann fuhr er fort:

"Ich sehe nur einen einzigen Ausweg, wie du dein Geschick vielleicht wenden und die drohenden Schmerzen lindern kannst. Du musst Buße tun und Opfer bingen. Bettlern sollst du Almosen geben. Zehn gefangene Tiere sollst du freilassen. Vielleicht kann das Saturn beschwichtigen. Wenn du Saturn anbetest, mag sich deine Last mit der Zeit verringern”

Der Mann folgte des Abtes Rat. Und wirklich: er schaffte es und entging dem Verhängnis, wie es der Abt geweissagt.

Er selbst jedoch, der Abt, brachte es nicht über sich, Saturn Opfergaben zu bringen und ihn anzurufen. Er dachte nicht daran, hatte er doch ganz andere Pflichten!

Zwei oder drei Tage später, kurz vor dem Feiertag, nahm der Abt die Kerne einer Tamarinde und hackte sie klein. Er schüttete sie in einen großen irdenen Topf, um sie darin zu sieden, denn er wollte die verblasste Farbe seiner Gewänder innen und außen in der Lohe auffrischen, damit sie zum Feste wieder leuchteten wie neu.

Gerade als der Abt seine Gewänder bis auf das Lendentuch abgelegt hatte und Feuerholz unter seinem Wäschekessel nachschob, so dass die Brühe aufschäumte, kamen Bauern aus einem anderen Dorfe des Weges. Sie hatten sich an die Verfolgung einer Diebesbande gemacht, die ihre Wasserbüffel fortgetrieben.

Die Bauern führte ihr Pfad an jenem Tempel vorüber. Sie traten ein, denn sie wollten um eine Schöpfkelle Wasser zu ihrer Erquickung bitten. Im Tempelgarten trafen sie auf einen halb nackten Mann, der den Sud in dem irdenen Kessel umrührte. Sie fragten:

"Was machst du denn da?”

Der Abt antwortete:

"Ich habe Färberlohe angesetzt, um meine Gewänder aufzufrischen.”

Die Bauern traten näher und blickten in den Kessel hinein. Als sie den lnhalt erkannten, wendeten sie sich dem Abte zu und riefen wie aus einem Munde:

"Ih, du also bist es gewesen, der uns die Büffel gestohlen. Sieh doch, da schwimmt ja ihr Fleisch in der Brühe!”

Die Bauern hielten das, was in dem Kessel kochte, für das Fleisch ihrer Büffel. In ihren Augen war die Lohe aus den Kernen der Tamarinde nichts anderes als Fleischbrühe, der Sud aus dem Fleisch ihrer Büffel. Sie herrschten den Abt an:

"Los! Wir nehmen dich mit. Dem Fürsten der Stadt stellen wir dich vor. Denn du bist niemand anderes als jener Dieb, der unsere Büffel gestohlen und geschlachtet hat.”

Als der Abt begriff, was geschehen war, musste er an seine eigene Weissagung denken, an das Verderben, das er sich selbst prophezeit, an Saturn, der nun sein Schicksal gewendet. Ehrerbietig redete er die Büffelbesitzer an:

"Gut! Ihr sagt, dass ich euch eure Wasserbüffel gestohlen. Ich streite mit euch nicht. Aber bevor ihr mich mit euch fortführt, lasst mich noch Mahlzeit halten!”

Die Büffelherren hatten dagegen nichts einzuwenden. Sie gestatteten dem Abte zu speisen. Kaum hatte er die Erlaubnis erhalten, eilte er in seine Klause. Er nahm seine Nahrung und brachte sie Saturn als Opfergabe dar. Dabei sang er die Beschwörungsformeln, die von Alters her der Abwendung von Gefahren gewidmet waren. Er betete zu Saturn, er möge ihm das zugedachte Schicksal ersparen.

Die feierliche Beschwörung Saturns war zu Ende. Der Abt nahm ein paar Happen zu sich und kam dann aus seiner Zelle wieder hervor. Er kehrte zu den Büffelbesitzern zurück, um sich von ihnen vor den Fürsten führen zu lassen. Bevor sie sich in Bewegung setzten, ging er zu seinem Kessel, um nach dem Feuer zu sehen. Die Bauern folgten ihm auf den Fersen. Gemeinsam blickten sie in den Kessel. Was sie sahen, setzte sie in Erstaunen. Sie riefen:

"Eh, was ist denn das? Ehrwürdiger, wirklich, da schwimmen die gehackten Tamarindenkerne in der Lohe. Das ist kein Fleisch, das du in diesem Kessel gesotten. Wir haben uns geirrt.”

Ungläubig rührten sie in dem Wäschetopf und untersuchten auf das Genaueste, was darin war. Nichts andesres ist es gewesen als der Abt gesagt, nämlich Tamarindenkerne zum Färben von Stoffen. Fleisch war es nicht. Einmütig traten die Büffelherren vor den Abt und baten ihn dafür um Verzeihung, dass sie so blind gewesen und ihn so heftig angefahren. Dann nahmen sie Abschied von dem Abte. Dem entrang sich ein Seufzer der Erleichterung:

"Och, fast wäre es um mich geschehen gewesen. Noch gerade zur rechten Zeit konnte ich das drohende Unheil abwenden. Jetzt weiß ich, was es bedeutet, Saturn zum Feinde zu haben.”

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Unsere Dorfgeschichten sind dem hübsch illustrierten Buch "Der Reiche und das Waisenkind" entnommen, herausgegeben von Christian Velder (Foto). Der deutsche Philologe mit Wohnsitz in Chiang Mai hat über viele Jahre thailändische Volkserzählungen übersetzt und gesammelt. Das Buch mit 120 Geschichten kostet 680 Baht. Velders Buch "Der Richter Hase und seine Gefährten" enthält reich illustrierte Volkserzählungen. Der kleine und zerbrechliche Hase gilt in Südostasien als ein Tier von Klugheit und List. Das Buch kostet 480 Baht. Beide Bücher sind in Pattaya erhältlich in den Buchläden DK an der Soi Post Office und der Central Road, in den Bookazine-Geschäften in der Royal Garden Plaza und im Central Festival Center/Big C, bei Amigo Tailor an der Soi Diamond, im Restaurant Braustube an der Naklua Road sowie in der FARANG-Geschäftsstelle an der Thepprasit Road. Sie können das Buch hier bestellen

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