Nichts ist sicher auf dieser Welt

christian20velder
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übersetzt von Dr. Christian Velder

Der ehemalige Mönch Kham hatte mehr als zehn Jahre lang dem Orden angehört. Er hatte das Kloster inzwischen verlassen, aber noch benahm er sich wie ein Ordensmann, gemächlich und langsam machte er sich ans Werk, er wusste sich zu beherrschen. Mit Vorsicht und Sorgfalt führte er seine Arbeit aus, und wenn er redete, so bediente er sich einer zurückhaltenden und gesetzten Sprache. Immer wieder hörte man ihn sagen:

"Auf der Erde ist alles nichtig, etwas Sicheres gibt es hienieden nicht.”

Unverheiratet war Kham, doch hatte er seine Aufmerksamkeit einer Jungfrau zugewendet, der Tochter von Di, einem der wohlhabendsten Bauern im Dorf.

Di hatte niemals im Kloster gelebt, hatte nichts für die Lehre und den Orden übrig, seinen Sinn hatte er einzig auf die Mehrung seines Wohlstands gerichtet, er arbeitete zügig und schnell und ging mit Eifer und Fleiss einer jeden Beschäftigung nach. Zuwider war ihm nur eines, das Zögern und Zaudern!

Als nun seine Tochter mit Kham, dem ehemaligen Mönch, verheiratet war, jenem Manne, der jede Arbeit so übergründlich verrichtete und so bedächtig und langsam sprach, erwies es sich, dass Schwiegervater und Tochtermann im Charakter so verschieden waren wie Handfläche und Handrücken.

Gewiss, seine Tochter hatte Di mit Kham vermählt, aber konnte das gut gehen? Würde sie zuletzt nicht gar verlassen und traurig dasitzen, voll bitterer Gefühle, voll Kummer und Schmerz? Jedenfalls bemitleidete der Vater seine arme Tochter sehr.

Di nannte große Ländereien sein eigen, wo er Reis anbaute. Eines Tages bat er seinen Schwiegersohn, ihn zu begleiten, die zukünftige Ernte zu begutachten und die Arbeitsleistung der Knechte zu überprüfen, damit Abhilfe geschaffen werde, falls irgendwo erforderlich.

In diesem Jahr waren die Halme kräftig und gerade gewachsen, die Reisbüschel standen dicht an dicht, hatten bereits Körner angesetzt, sie glänzten grün und gesund, wogend in der leicht säuselnden Sommerbrise, ein Vergnügen für Auge und Ohr. Di wollte Kham an seiner Freude teilhaben lassen. Mit seiner aus langer Erfahrung gewonnenen Urteilskraft war für ihn sonnenklar, dass die Ernte in diesem Jahre außergewöhnlich gut ausfallen würde, dass diesmal viel mehr Reis in die Schober eingefahren würde als je und ein erklecklicher Gewinn der Lohn sein würde. Er rief:

"Was meinst du? Heuer steht der Reis so kräftig und grün auf dem Halm! Schau nur, die Rispen haben saftige Körner angesetzt, ich bin sicher, in diesem Jahr werden wir viel mehr Reis verkaufen können als in den Jahren zuvor!”

Kham, der ehemalige Mönch, der so lange im Kloster geweilt, brachte es nicht über sich, dem Schwiegervater zum Munde zu reden. Statt allerlei schöner Redensarten hielt er es mit der Wahrheit und sagte:

"Vater, noch vermag niemand mit Gewissheit vorauszusagen, ob der Reis, der so kräftig Frucht angesetzt, auch eine reichliche Ernte bringen wird. Es könnte eine Überschwemmung geben, die uns um unsere Ernte bringen mag. Mein Lehrer im Kloster hat immer gesagt, alles ist nichtig, es gibt nichts Sicheres auf der Welt.”

Der Alte missbilligte die Entgegnung des Schwiegersohnes, ja er ärgerte sich darüber, aber er beherrschte sich, denn in der Tat, die Zeit der Ernte war weit entfernt, und mancherlei könnte noch dazwischenkommen. Deshalb unterdrückte er sein Missfallen und ließ davon nichts erkennen.

Zwei Monate später neigten die Rispen sich unter der Last der Körner und wogten im Winde. Di freute sich über den Anblick und führte Kham abermals auf einen Rundgang über die golden glänzende Flur. Er wollte ihm zeigen, wie sehr er sich damals geirrt, als er vor jener Überschwemmung gewarnt, die nie eingetreten war. Di und Kham schritten munter aus. Auf allen Feldern bot sich das gleiche Bild. Kräftig standen die Halme da, und jeder hatte überreichlich Frucht angesetzt, die Rispen strotzten vor Körnern, dass es eine Lust war. Di deutete lächelnd über sein Reich und sprach:

"Hier, Kind, sieh doch nur! Die Rispen sind überreichlich gefüllt mit Körnern, und das über die gesamte Fläche unserer Ländereien hin. In diesem Jahr werden wir eine ungewöhnlich gute Ernte haben, und sie wird uns einen mächtigen Gewinn einbringen!”

Kham, der ehemalige Mönch wusste darauf nichts anderes zu erwidern als seine alte Rede, auf dieser Welt sei nichts beständig. Er sagte:

"Das ist noch gar nicht sicher, Vater! Es könnte ein Unwetter hereinbrechen, das Wasser die Ernte ersäufen, die Körner könnten in der Feuchtigkeit am Halme auskeimen, die Vögel könnten über den Reis herfallen, eine Mäuseplage könnte sie zunichte machen oder Schwärme von Käfern. Noch haben wir die Ernte nicht eingefahren, noch ist sie nicht in den Schobern verwahrt. Mein alter Lehrer hat gesagt, in den Dingen der Welt gibt es nichts, was sicher wäre!”

Di sah, wie gesegnet die Reisfelder sich hinbreiteten vor seinem entzückten Blick. Aber er musste zugeben, noch war die Ernte nicht eingebracht, er musste an sich halten, denn seine Zeit war noch nicht gekommen. Er unterdrückte seine Enttäuschung und biss die Zähne zusammen.

Als der Reis reif war, nahmen die Knechte ihre Sicheln und ernteten die Felder eins nach dem anderen ab. Das Korn wurde gedroschen, die Säcke gefüllt und in den Schobern gestapelt. Eine solche Fülle gab es noch nie. Der Überfluss hatte seinesgleichen nicht. Di wusste sich nicht zu lassen vor Freude. Denn nun war es offenkundig, seine Vorhersage war eingetroffen, den Unkenrufen seines Schwiegersohnes zum Trotz. Nichts sei sicher? Das Gegenteil war der Fall: die Ernte war sicher verwahrt. Da sprach Di zu Kham:

"Siehst du! Meine Worte haben sich als zutreffend erwiesen. Es war die reine Wahrheit. Nichts ist sicherer als das. Die Menge unseres Korns übertrifft alles bisher da Gewesene. Das wirst du doch zugeben, oder?”

Kham dachte einen Augenblick schweigend nach. Aber dann nahm er das Wort, und was er sagte, klang nicht anders. als was er schon immer vorgebracht:

"Vater, sicher ist gar nichts. Auf unserer Erde gibt es keine Gewissheit. Mag der Reis auch in den Schobern gestapelt sein, Gefahren lauern überall. Eine Feuersbrunst könnte ihn vernichten, Ratten, Gewürm und Termiten könnten darüber herfallen, die Gefahr ist bei weitem noch nicht gebannt.”

Verbissen schweigend grübelte Di über eine Lösung nach, wie er seinen Schwiegersohn dazu bringen könnte, sich endlich geschlagen zu geben. Gewiss. Er hatte ja Recht. Noch war nicht aller Tage Abend. Er bezwang also seinen Zorn und wartete.

Am Tage bearbeiteten die Knechte die Reiskörner, um sie von ihrem Spelz zu trennen. Dann wurde der Reis gekocht und mit allerlei Zutaten aufgetischt. Schließlich saßen alle Mitglieder des Hausstandes in der Runde, um es sich schmecken zu lassen. Während sie so einträchtig zusammensaßen, nahm Di das Wort, denn nun war seine Stunde gekommen. Er wollte seinen Sieg über den Schwiegersohn auskosten, der seiner Voraussage keinen Glauben geschenkt. Er sprach:

"Hier, Kham, der Reis, den wir gleich essen werden, ist er nun Wirklichkeit oder Traum?”

Kham, der einstige Mönch, sah dem Vater ins Gesicht, wie er würdevoll und siegesbewusst da saß, und bewahrte dem selbstsicheren Schwiegervater gegenüber seine Haltung. Er sagte bescheiden:

"Auch jetzt ist für mich gar nichts gewiss, Vater!”

Kaum hatte er ausgeredet, da sprang Di auf. Er schlug Kham mit der Faust mitten ins Gesicht. Die volle Wucht des Fausthiebes streckte das Opfer nieder. Blut sickerte ihm aus den Mundwinkeln. In dem Aufruhr stürzten Töpfe und Schüsseln um. Wütend schrie Di seinen Schwiegersohn an:

"Wie gefällt dir das, Kham? Essen wirst du heute nicht mehr. Nur was du gegessen hast, ist dir gewiss, nicht wahr?”

"Vater, du hast Recht, du selbst und alle hier im Raum haben es miterlebt. Erst was wir im Munde haben, gehört uns. Aber auch dann kann ein Schlag es herausfallen lassen. Und was im Topf oder in der Schüssel ist, kann verschüttet werden: nichts ist sicher, nichts gewiss, das musst du zugeben, Vater!”

Der Alte vernahm die Entgegnung seines Schwiegersohnes, und wie viel er ihm auch zürnen mochte, Recht hatte er. In der Stille, die eingetreten war, hörte man Di sagen:

"Oeh, was er sagt, mag schon stimmen. Ich muss es zugestehen. Auf der Erde gibt es nichts, was sicher wäre. Ich gebe mich geschlagen und bitte dich für meinen Starrsinn um Verzeihung.”

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Unsere Dorfgeschichten sind dem hübsch illustrierten Buch "Der Reiche und das Waisenkind" entnommen, herausgegeben von Christian Velder (Foto). Der deutsche Philologe mit Wohnsitz in Chiang Mai hat über viele Jahre thailändische Volkserzählungen übersetzt und gesammelt. Das Buch mit 120 Geschichten kostet 680 Baht. Velders Buch "Der Richter Hase und seine Gefährten" enthält reich illustrierte Volkserzählungen. Der kleine und zerbrechliche Hase gilt in Südostasien als ein Tier von Klugheit und List. Das Buch kostet 480 Baht. Beide Bücher sind in Pattaya erhältlich in den Buchläden DK an der Soi Post Office und der Central Road, in den Bookazine-Geschäften in der Royal Garden Plaza und im Central Festival Center/Big C, bei Amigo Tailor an der Soi Diamond, im Restaurant Braustube an der Naklua Road sowie in der FARANG-Geschäftsstelle an der Thepprasit Road.

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