Die Höhle der Freundschaft

Die Höhle der Freundschaft

Am Wege von Chiang Mai nach Fang liegt ein Dorf. Es ist ein kleines Dorf. Die Bewohner nennen es die Siedlung bei den Tamarinden. Die Hütten säumen den Weg auf beiden Seiten, während diesersich durchs Tal hinauf ins Gebirge windet. Die Tamarindenbäume sind hoch und breit, und ihr Schatten kühlt das Lüftchen, das dort weht. Durchs Dorf schlängelt sich ein Bach mit klarem kaltemWasser, das auch in der heissen Trockenzeit nicht versiegt. Ungefähr drei Meilen vom Dorf entfernt gibt es eine Höhle. Von dieser Höhle erzählen die alten Leute im Dorf eine Geschichte.

Vor etwa vierhundert Jahren lebte in der Höhle eine Riesenschlange. Ihres Leibes Umfang war so geräumig, dass sie ein Pferd im Stück, ein Rind unzerkaut, einen Büffel im Ganzen bequemherunterschlucken konnte. Wenn die Schlange auf die Jagd ging, verschlang sie all die Tiere, die ihr in die Quere kamen, sie frass sie auf mit Haut und Haar. Ihr Hunger war so gross, dass dieAnzahl der Tiere in dieser Gegend allmählich zurückging und der Schlange nur der Ausweg blieb, nach der Stadt Fang aufzubrechen, um dort ihre Nahrung zu suchen. Sie frass den Bewohnern ihreHaustiere weg und machte sich dann an die Bürger selbst. Da gab es Heulen und Zähneklappern von einem Ende der Stadt bis zum andren. Wer von der Schlange verschont worden, suchte sein Heil inder Flucht, und die Stadt blieb entvölkert zurück. Die Schlange aber gab keine Ruhe, sie verfolgte ihre Beute und liess nicht locker. Da wussten die Bürger sich keinen Rat mehr und schriebeneine hohe Belohnung aus für den, der sie von der Schlange befreien würde. Dem Mutigen würden sie Silber und Gold, Elefanten, Pferde, Rinder und Büffel schenken nach seines Herzens Begehr.

Dieser Siegespreis lockte eine Menge Leute herbei, aber niemand hat sie je wiedergesehen. Die Schlange fing einen nach dem anderen ein und frass sie auf.

Eines Tages meldeten sich drei Chinesen, drei Brüder, die ins Land gekommen, um hier Handel zu treiben. Als sie von der Notlage der Menschen hörten, versprachen sie ihnen, die Schlange zubezwingen. Bevor sie sich auf den Weg machten, zogen sie alle möglichen Erkundigungen ein, so zum Beispiel, wie lang die Schlange sei. Aus diesen Informationen wollten die drei ihren Planableiten.

Die Schlange kam in der Nacht lautlos herangekrochen, und die drei sahen, dass sie tatsächlich so dick und lang war wie eine Palme. Sie schlängelte sich überall durch, und wenn sie auf etwasLebendiges stiess, verschlang sie es ohne Zögern. Erst als sie satt war, zog sie sich in ihren Wald zurück. Die drei Brüder beobachteten das Verhalten der Schlange, und allmählich wurde ihnenklar, auf welche Weise sie ihren Plan verwirklichen konnten.

Sie teilten jedem eine besondere Aufgabe zu und legten sich dann an dem Weg auf die Lauer, den die Schlange kommen musste. Es wurde dunkel. Schwarze Nacht hüllte die Erde ein. Jeder Lauterstarb. Da kam die Schlange aus ihrer Höhle heraus. Sie schlängelte sich auf ihrem Pfade voran. Sobald sie bei dem Versteck der drei Brüder ankam, traten diese ihr in den Weg. Die Schlangebäumte sich auf und schnellte vor, um ihren Opfern den Todesstoss zu versetzen. Der Älteste hatte auf diesen Augenblick gewartet. Als die Schlange auf ihn niederfuhr, hob er eine grossestählerne Pfanne als Schild über seinen Kopf. Die Schlange hatte ihre Kinnladen bereits weit aufgesperrt, und sie musste die Pfanne schlucken. Die schwere Eisenplatte blieb ihr quer im Halsestecken. Sie würgte und würgte, aber die Pfanne sperrte ihren Hals und bewegte sich nicht vor und nicht zurück. Die Schlange wand sich hin und her und schüttelte sich, aber das hatte alleskeinen Zweck. Nun ergriffen die drei Brüder ein mächtiges Schwert, einen riesigen geschmiedeten Dreizack und einen gewaltigen Spiess und fügten der Schlange mit ihren Waffen klaffende Wundenzu. Sie konnte sich nicht wehren, weil die Pfanne ihr von innen den Hals abschnürte, und versuchte, schwer verwundet wie sie war, ihr Heil in der Flucht.

Die drei Männer erzählten den Bürgern, dass sie die Schlange bezwungen, und die Freude war gross. Keiner vermutete, dass die Schlange wiederkommen würde, um Rache zu nehmen, aber in dernächsten Nacht war sie plötzlich wieder da. Böse und zornig stürzte sie sich auf ihre Gegner. Die Brüder hielten ihrer Feindin nicht stand und rannten um ihr Leben. Niemand hat sie wiedergesehen. Die Schlange machte sich über die Hütten in der verlassenen Stadt her und verschlang alles, was nicht niet- und nagelfest war, verschluckte, was sie finden konnte, und zermalmte, waszu gross zum Fressen war. In ohnmächtiger Wut sahen es die Bürger, aber sie mussten die Schlange gewähren lassen.

Eines Tages kam ein Waldmönch, ein Einsiedler des Weges und suchte sich in Fang ein Nachtlager. Als die vertriebenen Bürger es erfuhren, warnten sie den frommen Mann vor dem Schlangenriesen.Der Ehrwürdige möge die Stadt schleunigst verlassen und sich eine Bleibe ausserhalb suchen. Aber er lachte nur und entgegnete:

“Ich möchte hier im Tempel bleiben. Die Schlange wird mir nichts tun!”

Die Bürger redeten auf den Mönch ein, er aber schwieg und hörte gar nicht zu. Er blieb, wo er war, und die Bürger mussten ihn gewähren lassen.

Am nächsten Morgen kamen sie nachsehen, und zu ihrer Überraschung trafen sie den Mönch frisch und munter in seinem verlassenen Tempel an. Der Boden um seine Hütte war glatt gewalzt von derSchlange und im Kreis ringsherum hatte sie die Spuren ihres Leibes hinterlassen. Offenbar hatte sie dem Alten nichts anhaben können. Die Bürger beschworen ihn, seine magische Kraft auf sie zuübertragen, damit auch sie sich der Riesenschlange erwehren könnten.

Der Mönch schickte die Bürger Kokosschalen holen und in Stücke schlagen. Er versah sie mit magischen Zeichen und führte eine Beschwörung durch. Dann verteilte er die Kokosschalen unter dieBevölkerung. Nun besassen sie ein Mittel, sich selbst und ihre Stadt zu schützen. Der Mönch veranlasste die Bürger, in ihre Stadt und in ihre Häuser zurückzukehren. Wenn die Schlange komme, sosollten sie ihre Kokosschalen in die Höhe halten und die magischen Zeichen sehen lassen, dann werde die Schlange ungesäumt das Weite suchen.

In der Nacht war die Schlange wieder da. Wer sie sah, erhob seine magischen Kokosschalen und liess die Zeichen sehen. Und richtig. Die Schlange bekam es mit der Angst zu tun, als sie dieKokosschalen mit den Zeichen sah. Sie machte kehrt und verzog sich in ihre Höhle im Wald. Dort blieb sie. Doch die Menschen trauten sich nicht hinein zu ihr und liessen sie in Frieden. Aber siefürchteten sich jede Nacht, dass die Schlange wiederkommen könnte, um Rache zu nehmen. Zur Ruhe kamen sie nicht.

Am Ende verfiel der Bürgermeister auf den Gedanken, die geweihten Kokosschalen am Eingang der Höhle in die Erde zu senken. Er hatte Erfolg. Die Schlange liess sich nicht mehr blicken.

Der Einsiedler hatte seine Meditationsübungen im Tempel beendet und wanderte weiter, niemand weiss wohin, wie auch keiner wusste, woher er gekommen.

In späteren Zeiten gab es Menschen, die jene Beschwörungsformel gern gekannt hätten, die der Mönch in die Schalen geritzt. Sie gruben nach und fanden die Kokossplitter wohlbehalten im Boden vorder Höhle. Sie staunten. Da gab es nur zwei Silben, zwei Silben allein:

Metta, Freundschaft.

Darum also heisst die Höhle seit dieser Zeit die Metta-Höhle, die Höhle der Freundschaft.


Unsere Dorfgeschichten sind dem hübsch illustrierten Buch „Der Reiche und das Waisenkind“ entnommen,herausgegeben von Christian Velder (Foto). Der deutsche Philologe mit Wohnsitz in Chiang Mai hat über viele Jahre thailändische Volkserzählungen übersetzt und gesammelt. Das Buch mit 120Geschichten kostet 680 Baht. Velders Buch „Der Richter Hase und seine Gefährten“ enthält reich illustrierte Volkserzählungen. Der kleine und zerbrechliche Hase gilt in Südostasien als ein Tiervon Klugheit und List. Das Buch kostet 480 Baht. Beide Bücher sind im FARANG Medienhaus erhältlich.

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