Die glückliche Stunde kommt

christian20velder
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In früheren Zeiten lebte einst ein betagter Hofbeamter. Dieser hatte sich der Wahrsagekunst ergeben. Viel Zeit und Geduld hatte er aufgewendet für die Erforschung der Horoskope. Dadurch hatte er große Geschicklichkeit erworben in der Deutung der Zukunft.

Eines Tages kam er auf den Gedanken, seine Wissenschaft an seinem eigenen Horoskop zu erproben, um zu erkennen, was das Schicksal für ihn bereithielt.

Als er die Konstellationen ergründet hatte, schrak er zusammen. Denn die Berechnungen ergaben, dass ihm ein gewaltsames Ende bevorstand, und das schon bald. Er traute seinen Augen nicht. Was er errechnet hatte, wollte er von einem anderen Seher überprüfen lassen. Aber auch dieser bestätigte das Verhängnis, das dem Hofbeamten drohte.

Um sein Schicksal zum Guten zu wenden, schickte er seine Frau auf den Markt, um ein Tier zu kaufen, das er zur Erleichterung seiner Sündenlast opfern wollte. Danach blieb er im Haus, um sein Leben vor jeder Gefahr zu bewahren. So ging es viele Tage lang, bis der Hofbeamte am Ende annahm, die Bedrohung, unter der er gelebt, habe sich verflüchtigt.

Eines Mittags befiel ihn ein Unwohlsein. Ruhelos ging er im Hause auf und ab. Er hatte das Bedürfnis, seinen Leib durch ein Bad im Fluss zu kühlen. Ohne alle Umstände wollte er ganz allein an der Anlegestelle vor seinem Hause baden. Was sollte dabei schon groß geschehen? Denn die Unglücksstunde war doch längst vorbeigezogen, zumal er sich befleissigt hatte, seine Tage in Tugend und Wohlverhalten zu verbringen.

Der Hofbeamte nahm seinen Schöpfnapf und verliess das Haus. An der Anlegestelle ging er ins Wasser. Mit dem Schöpfnapf goss er das kühle Nass über seinen Scheitel, wusch sich die Haare, kühlte Brust und Rücken, bis er erquickt war. Frohgemut ging er sodann schnell wieder ins Haus. In der Eile vergass er den Schöpfnapf, der auf des Ufers Wellen fröhlich dahintrieb.

Kaum hatte der Hofbeamte die Tür hinter sich geschlossen, da war des Königs Sohn, der kleine Prinz, mit seinem Gefolge an der Badestelle eingetroffen. Sie wateten ins Wasser, um darin zu spielen. Nach einer Weile bemerkten des Prinzen Begleiter, dass er verschwunden war. Aufgeregt suchten sie den Uferstreifen ab, immer und immer wieder, aber finden konnten sie den kleinen Prinzen nicht. Verzweifelt kehrten sie zum König zurück und berichteten ihm, was geschehen war. Der König befragte sie, ob sie an der Badestelle etwas Ungewöhnliches bemerkt. Die Gefolgsleute erinnerten sich an den Schöpfnapf, der dort auf den Wogen tanzte, als sie angekommen, von dem Hofbeamten nach seinem Bade zurückgelassen. So fiel der Verdacht auf diesen, nur er konnte es gewesen sein, der den Prinzen entführt.

Der König befahl ohne viel Aufhebens seinen Vertrauten, mit dem Scharfrichter den Beamten aufzusuchen, ihn zu verhaften und hinzurichten.

Die Vertrauten des Königs und der Scharfrichter eilten zum Hause des Hofbeamten, um ihm das königliche Urteil zu verkünden. Er lud sie höflich in sein Haus ein, des Königs Beamte und den Scharfrichter. Bereitwillig gab er sich in ihre Gewalt. Weil er aber die Hoffnung hegte, seine Unglückssträhne nähere sich ihrem Ende, versuchte er, seine Verhaftung recht und schlecht in die Länge zu ziehen. Er ließ sich die Gründe für seine Verurteilung in allen Einzelheiten erläutern und erfuhr dabei, dass der kleine Prinz bei der Badestelle angekommen war, nachdem er selbst nach Hause gegangen, dass jener dann plötzlich verschwunden, während der Schöpfnapf auf den Wellen tanzend zurückgeblieben, was den Hofbeamten im höchsten Grade verdächtig mache, das Verschwinden des Prinzen verschuldet zu haben.

Der Beschuldigte seinerseits hielt dem entgegen:

"Das Zurücklassen eines Schöpfnapfes ist eine gar schwache Begründung für die Todesstrafe überhaupt und insbesondere, wenn ein so hoher Beamter wie ich davon betroffen ist. Ich war die ganze Zeit hier im Hause, hier war ich, als der Prinz verschwand, wer vermag mir daraus einen Strick zu drehen und ist dreist genug, mir in die Schuhe zu schieben, ich hätte den Kleinen entführt oder vielleicht sogar umgebracht, ich, der ich von meiner frühesten Jugend bis in mein heutiges hohes Alter ein treuer Diener unseres Königs gewesen. Ihr Würdenträger, glaubt ihr denn selbst, ich sei zu einer solchen Untat fähig? – Aber wie dem auch sei, ein Befehl ist ein Befehl, und so müssen wir alle uns fügen!”

Die Vertrauten des Königs und der Scharfrichter konnten dem Hofbeamten nur beipflichten. Zwar erkannten sie die Wahrheit in seiner Rede, aber, was sollten sie tun, Befehl war Befehl! Sie führten ihn also ab zur Hinrichtungsstätte.

Inzwischen war die Zeit des Verhängnisses abgelaufen. Die Gefolgsleute des Königs hatten den Prinzen wiedergefunden und dem König die frohe Botschaft ausrichten lassen. Dieser hatte unverzüglich seine Herolde zum Haus des Hofbeamten entsandt. Dort hatten sie die Vertrauten des Königs und den Scharfrichter gerade noch rechtzeitig angetroffen.

Sie teilten dem Hofbeamten die Entscheidung des Königs mit und geleiteten ihn zum Palast, wo er seine Ehrenbezeugungen vor dem Herrscher verrichtete. Der König bat seinen Beamten um Verzeihung. Er belohnte ihn nach seinen Verdiensten, und der Beamte vergaß die Gefahr, in der er noch eben geschwebt. Er erzählte dem König die ganze Geschichte, wie er sich das Horoskop gestellt und das drohende Unglück erkannt habe, wie er die Macht des Verhängnisses gebrochen und gerade zum rechten Augenblick ins Glück zurückgefunden habe.

Sein voriges Unglück habe er selbst zu verantworten, niemanden treffe daran die Schuld außer ihn selbst!

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Unsere Dorfgeschichten sind dem hübsch illustrierten Buch "Der Reiche und das Waisenkind" entnommen, herausgegeben von Christian Velder (Foto). Der deutsche Philologe mit Wohnsitz in Chiang Mai hat über viele Jahre thailändische Volkserzählungen übersetzt und gesammelt. Das Buch mit 120 Geschichten kostet 680 Baht. Velders Buch "Der Richter Hase und seine Gefährten" enthält reich illustrierte Volkserzählungen. Der kleine und zerbrechliche Hase gilt in Südostasien als ein Tier von Klugheit und List. Das Buch kostet 480 Baht. Beide Bücher sind in Pattaya erhältlich in den Buchläden DK an der Soi Post Office und der Central Road, in den Bookazine-Geschäften in der Royal Garden Plaza und im Central Festival Center/Big C, bei Amigo Tailor an der Soi Diamond, im Restaurant Braustube an der Naklua Road sowie in der FARANG-Geschäftsstelle an der Thepprasit Road.

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