übersetzt von Dr. Christian Velder
Es war einmal ein Waisenknabe. Seine Eltern waren gestorben, als er noch ganz klein gewesen. Damals hatte er seine Geschwister und Verwandten der Reihe nach aufgesucht, um von ihnen ein Obdach zu erflehen. Aber sie alle hatten ihn fortgejagt. Als er keinen Ausweg mehr fand, ging er in den Tempel. Klosterschüler wollte er und des Abtes Diener sein.
Eines Tages ankerte ein Kaufmann mit seiner Dschunke an der Anlegestelle des Tempels. Der Kapitän wusste kurzweilige Geschichten zu erzählen und weckte die Neugierde des Waisenknaben. Er wollte mitfahren in ferne Länder, um dort etwas Ordentliches zu lernen. Er suchte also den Abt auf, ihn um Urlaub zu bitten. Der Abt hatte grosses Mitgefühl für seinen lernbegierigen Schüler. Er wusste zu genau, wenn ein Mann keine Bildung hat, sehen die anderen auf ihn herab. Er wird verachtet.
Weil der Knabe ein so gutes Herz besass und fleissig seine Pflichten erfüllt hatte, gab der Abt ihm zum Abschied ein Säckchen voll Silber mit auf den Weg. Das sollte ihm als Schulgeld dienen, wenn er bei einem Professor in die Lehre gehen würde, um es in der einen oder anderen Kunst zur Meisterschaft zu bringen.
Der Waisenknabe freute sich über die Gabe seines Lehrers sehr, warf sich ihm zu Füssen und dankte ihm überschwenglich. Er begleitete also den Kaufmann auf der Handelsreise, bis die Dschunke im Hafen einer fernen und fremden Stadt anlegte. Er nahm Abschied von dem Herrn der Dschunke und begab sich auf die Suche nach einem Lehrer, der ihm eine besondere Fertigkeit beibringen könnte. Er ging von Schule zu Schule, und am Ende hatte er gefunden, was er suchte. Der ehrwürdige Lehrer nahm den Waisenknaben in seine Obhut, und dieser erlernte die Kunst seines Meisters, bis er sie in allen Einzelheiten vollständig beherrschte und sein Silber auf die Neige ging. Nun gehörte der Waisenknabe zu den ausgewiesenen Kennern seines Faches, verabschiedete sich von seinem Lehrer und wollte seinen Gönner, den Abt, aufsuchen, um ihm eine Probe seiner Kunst zu geben und den Dienst dort wieder aufzunehmen, wo er ihn verlassen, denn der Abt war schon alt und bedurfte jedweder Hilfe.
Inzwischen waren vor der Stadt fünfhundert Kauffahrtei-Dschunken eingetroffen und ankerten auf der Reede. Da sank auf höchst unnatürliche Weise der Wasserspiegel des Meeres, und nach kurzer Zeit lagen die Dschunken auf Kiel im Sande. Sie fanden sich allesamt auf Grund gesetzt oder waren am Ufer des Meeres gestrandet. Die Kapitäne bemühten sich, ihre Schiffe wieder flott zu machen, doch vergeblich! Der Kummer der Herren der Dschunken war schier unermesslich. Ungesäumt suchten sie den Herrscher der Stadt auf, um von ihm Hilfskräfte zu erbitten, Diener und Knechte, die ihre Schiffe wieder zurück ins Wasser ziehen und schieben könnten. Der Herr der Stadt bewilligte, um was sie baten, doch die Knechte und Diener vermochten es nicht, die Dschunken auch nur um Fingersbreite zu bewegen.
Während sie sich noch mit grossem Getöse abmühten, kam der Waisenknabe des Weges. Er lachte nur und rief:
"Hoe, ihr Dschunken, da liegt ihr nun faul auf dem Sand! Warum müsst ihr denn die Kräfte so vieler Arbeiter abnutzen? Ich allein könnte euch ohne jede Anstrengung sofort wieder auf Kurs bringen. In dieser Kunst bin ich Meister.
Die Knechte und Diener hörten des Knaben lächerliche Reden mit Ingrimm. Eine einzige Beleidigung für sie war das, was er gesagt. Die Dschunken liessen sie stehen und liegen und stürzten sich auf den Waisenknaben. Gefesselt schleppten sie ihn zum Fürsten im Palast. Dieser war ein leichtgläubiger Mann. Statt zuallererst den Beschuldigten zu befragen, hörte er auf die Aussage seiner Diener allein. Das war für ihn die Wahrheit. Sein Urteil lautete, der Waisenknabe habe sein Leben verwirkt.
Die Diener zerrten ihr Opfer zum Scharfrichter. Unterwegs flehte der Knabe sie an. Er sagte:
"Oh ihr würdigen Hofbeamten! Ihr, die ihr gross seid! Ich habe nur einen Wunsch. Bevor ich sterbe, möchte ich mich von den Geschwistern und Verwandten verabschieden.
Das sahen die Diener ein und erklärten ihre Bereitschaft, den Knaben zu seinen Verwandten zu begleiten. Als sie bei den Wohnungen der Geschwister und Verwandten eintrafen, befragten die Diener sie, wer von ihnen mit dem Verurteilten verwandt sei. Da erwies sich, dass nicht ein einziger es zugeben wollte. Vielmehr leugneten sie alle ab, den Gefangenen je gesehen zu haben.
Dieser beschwor die Diener des Fürsten ein zweites Mal:
"Ihr hochgeehrten Hofbeamten. Offenbar gibt es hier niemanden, der mit mir blutsverwandt. So führt mich, ich flehe euch an, zu meinen engsten Freunden, meinen vertrauten Kameraden, damit ich von ihnen Abschied nehmen kann.
Die Männer waren einverstanden und führten den Waisenknaben zu den Häusern seiner Freunde und Kameraden. Als sie aber nachfragten, wollte sich niemand zu seiner Verbindung mit dem Sträfling bekennen. Traurig wendete sich der Knabe zum dritten Mal an seine Häscher. Er sagte:
"Ihr Herren, die ich achte und ehre, ich euer Sklave habe keine Verwandten, habe keine Freunde mehr. Ich bin bereit zu sterben. Aber zuvor möchte ich von meinem Abt Urlaub erbitten. Er wohnt im Tempel hier ganz in der Nähe. Dies ist mein letzter Wunsch.
Die Fürstendiener hatten ein Einsehen. Sie begleiteten ihr Opfer zum Tempel. Dort angekommen, warf der Waisenknabe sich vor dem Abt zu Boden, verneigte sich tief und berührte des Ehrwürdigen Füsse mit der Stirn. Dann erzählte er ihm seine ganze Geschichte vom Anfang bis zum Ende. Da erhob sich der Abt von seinem Sitz und herrschte die Häscher an:
"Ihr alle, warum bringt ihr diesen meinen Schüler in so beklagenswertem Zustand hierher? Was er euch gesagt, habt ihr das denn geprüft? Habt ihr ihn tun lassen, was er angeboten?
Verdutzt sahen die Diener sich an. Sie erwiderten:
"Nein, ach nein, das haben wir verabsäumt. Wir haben an nichts anderes gedacht als daran, dass er uns beleidigt. Das ist der Grund, weshalb er verurteilt worden.
Der Abt entgegnete:
"Bevor ihr diesen meinen Schüler zu Tode bringt, führt ihn zum Hafen und lasst ihn tun, was er versprach. Wenn er sein Angebot nicht einlösen kann, nur zu, dann mögt ihr ihn hinrichten, dann erging das Todesurteil zu Recht. Und nun, führt ihn fort!
Die Diener waren nachdenklich geworden. Tief verneigten sie sich vor dem Abt und geleiteten den Waisenknaben zum Hafen vor der Stadt. Sie befahlen ihm, eine Probe seiner Kunst zum Besten zu geben. Er brauche schliesslich die Dschunken nur ins Meer zurück zu blasen. Der Knabe empfand schmerzlich die Geringschätzung, die in den Worten der Fürstendiener lag. Mit dem Winde seines Mundes sollte er die Flotte zurück ins Meer pusten? Nichts wäre leichter für ihn als das, war er doch bei dem berühmtesten Bläsermeister in die Lehre gegangen! Um sein ganzes Können vor all den Schaulustigen voll zur Geltung zu bringen und sich zugleich für die Schmach zu rächen, die jene ihm angetan, drehte der Waisenknabe sich blitzschnell um und liess aus seinem Darm einen mächtigen Wind fahren. Die Segel der Dschunken schwellten sich, und alle fünfhundert segelten zurück ins Meer. Nicht eine einzige blieb am Strande zurück. Die Herren der Dschunken, des Fürsten Diener und Sklaven sahen es mit Staunen. Ihr Beifall brauste auf: Tschaiyo ho tschaiyo ho klang es zum Himmel hinauf. Die Herren der Dschunken und des Fürsten Dienerschar baten den Waisenknaben um Verzeihung. Er erhielt von ihnen eine Belohnung für die unerhörte Kunstfertigkeit, die er bewiesen. Der Fürst der Stadt hob die Todesstrafe auf, der Knabe wurde freigelassen.
Der Ruhm seiner Fertigkeit war in aller Munde. Der Herrscher der Stadt lud ihn ein, im Palast ein Stücklein seiner Kunst vorzutragen. Als der Waisenknabe im Audienzsaal erschien, befragte der Herr ihn lang und breit nach dem Ausmass seiner Fähigkeiten, und der Knabe erklärte ihm das ganze Register seiner allumfassenden Wissenschaft. Der Fürst selbst gab dem Knaben den Einsatz, und dieser holte tief Luft, spitzte die Lippen und begann zu pfeifen. Die süssesten Melodien liess er erschallen, ein Wunderwerk der Töne rauschte auf und hüllte die verzaubert lauschende Zuhörerschar ein.
Das Klangwerk des Knaben verhallte. Der Fürst war entzückt. Er machte den Künstler zu seines Hofes Liebling. Mit Rang und Würden bekleidete er ihn und schenkte ihm Schätze von Silber und Gold ungezählt.
Die Geschwister, Verwandten und Freunde kamen zuhauf, dem Knaben ihre Aufwartung zu machen. Dadurch lernte er eine Weisheit für sein Leben. Sie lautete:
"Wenn du in Not bist, kennt dich niemand, aber im Glück liegt die ganze Stadt dir zu Füssen.
Nun war der Waisenknabe wohlhabend. Der Fürst hatte ihm Macht, Würde und Rang verliehen.
In seinem Glück vergass er seinen Abt nicht. Der Waisenknabe wurde des Abtes Schutzherr. Er sorgte für ihn in Treue und Ergebenheit bis an das Ende seiner Tage.