Der Rat des Einsiedlers

übersetzt von Dr. Christian Velder

Der Rat des Einsiedlers

Vor Zeiten lebten einmal ein Mann und eine Frau. Viele Jahre hatten sie Umgang miteinander gehabt, und so umgab sie eine stattliche Kinderschar. Doch wie sie es auch anfangen mochten, sie kamen aus ihrer Armut nicht heraus, und mit jedem Kind wuchs ihr Elend.

Eines Tages sagte der Mann zu seiner Frau:

“Meine Liebe, oej, ich muss dich verlassen. Ich will versuchen, anderswo unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Wenn ich genügend Silber und Gold gewonnen, werde ich heimkehren. Denn wenn wir so wie jetzt weiterleben, werden wir auch in zehn Jahren noch immer Not leiden!”

Die Frau sah es ein, doch aus Liebe zu ihrem Mann versuchte sie, ihm sein Vorhaben auszureden. Er aber blieb dabei und änderte seine Meinung nicht. Vielmehr türmte er eine Menge Feuerholz auf bei ihrem Hause, brachte die Reisernte in den Schober, holte Salz und Chili sowie alles, was sonst noch wichtig war. Diesen Vorrat gab er seiner Frau für die Zeit seiner Abwesenheit. Dann zog er los, sein Glück zu versuchen.

Auf seinem Wege durch den Wald begegnete er einem frommen Einsiedler. Dieser hatte sich in die Einsamkeit geflüchtet, um dort seiner Seelenkräfte Vervollkommnung zu finden. Der Mann bat den Einsiedler, sein Schüler und Diener werden zu dürfen. Der Einsiedler willigte ein.

Ungefähr drei Jahre vergingen. Der Mann hatte Sehnsucht nach Frau und Kind. Er warf sich dem Einsiedler zu Füßen, um von ihm Urlaub zu erbitten. Der Einsiedler antwortete:

“Gut. Du willst nach Hause gehen. Es sei! So lass mich zuvor dir meinen Segen erteilen: Du mögest zufrieden sein und glücklich werden. Was du auch anfasst, es möge gedeihen und Frucht tragen!”

Bevor der Mann sich auf die Reise machte, gab ihm der Einsiedler noch zwei Ratschläge mit auf den Weg, die er stets im Gedächtnis behalten sollte. Diese Ratschläge lauteten:

Auf dem Festplatz darfst du nicht ruhen! Wenn eine Frau dich ausfragt, musst du schweigen!”

Der Mann verneigte sich tief zur Erde herab und wiederholte die beiden Merksätze, bis sie von seinem Herzen Besitz ergriffen. Dann machte er sich auf die Heimreise. Unterwegs kam er in eine Stadt, wo ein großes Tempelfest gefeiert wurde, sieben Tage und sieben Nächte lang. Dort gab es Unterhaltung und Spiele aller Art, und die Bürger strömten auf dem Festplatz zusammen, um ihren Spaß und ihre Freude zu haben. Der fremde Gast mischte sich unter das fröhliche Volk und vergnügte sich. Als der Abend kam, verließ er die Stadt und legte sich draußen vor dem Tor zur Ruhe, eingedenk des Rates, den ihm der Lehrer erteilt. Nachdem er eine Weile im Buschwerk geruht, schrak er hoch. Er hörte Stimmen. Zwei Männer waren gekommen, und sie hatten einen Sack mitgebracht, um ihn im Gebüsch zu verste­cken, nicht weit von der Stelle, wo sich sein Lager befand. Sobald sie ihr Vorhaben erledigt, kehrten sie in die Stadt zurück.

Der Mann wunderte sich. Als er sah, dass die beiden verschwunden waren, ging er nachsehen. In dem Sack befand sich pures Gold, befanden sich Juwelen, Ringe, Armreifen, Diademe, befand sich der erlesenste Schmuck, von den beiden Männern in der Stadt wohl gar gestohlen, während die Eigentümer sich auf dem Festplatz vergnügten.

Der Mann zögerte nicht. Er schulterte den Sack und schlug den Weg in seine Heimat ein. Viele Tage war er gewandert. Als er endlich sein Dorf erreichte, fiel die Abenddämmerung ein. Er sah schon von Ferne seine Frau, wie sie das Feuer entzündete, um die Abendmahlzeit zu bereiten inmitten der Kinderschar. Er dachte, wenn er mit seinem Schatz so plötzlich das Haus betreten würde, dann fiele seine Frau gewiss vor Freude in Ohnmacht. Auch wäre es unklug gewesen, einen solchen Reichtum im Hause zu verwahren. Denn nur zu leicht würde er Dieben zum Opfer fallen, während sie selbst in der Kammer schliefen. Nein. Das Beste würde sein, den Sack draußen in einem sicheren Versteck zu hinterlegen. So dachte er und verbarg den Sack unter einem großen Baume am Rande des Gemüsegartens. Als er fertig war, betrat er das Haus. Frau und Kinder wussten sich nicht zu lassen vor Freude über seine Heimkunft. Die Frau bereitete ihm die Mahlzeit, und beim Speisen unterhielten sie sich über ihre Erlebnisse in den Jahren der Trennung.

Während sie oben im Hause miteinander plauderten, hatte sich unten zwischen den Tragpfeilern ein Räuber eingeschlichen. Er horchte und erfuhr, dass der Mann soeben erst von der Reise heimgekehrt. Er dachte sich, dass jener sicherlich Silber und Gold mitgebracht. Von seinem verborgenen Horchposten konnte der Räuber jedes Wort verstehen, das Mann und Frau untereinander sprachen. Es wurde spät, und die beiden wollten schlafen gehen. Die Frau fragte ihren Mann:

“Älterer Bruder, du warst nun fast vier Jahre fort. Was hast du mir mitgebracht”

“Nichts, gar nichts habe ich mitgebracht. Ich komme mit leeren Händen. Meine Wanderung hat mich durch viele Gegenden geführt, aber ich habe nirgends Silber und Gold gefunden, ich bin mittellos.”

Die Frau konnte es nicht glauben. Sie bestand darauf, dass er sein Geheimnis mit ihr teile, und ließ nicht nach, ihn mit Fragen zu bestürmen. Die ewige Fragerei seiner Frau machte, dass sein Widerstand allmählich erlahmte. Er fühlte sich von der Beharrlichkeit belästigt, mit der seine Frau in ihn drang, und schließlich gab er es zu:

“Dein älterer Bruder hat einen Sack voll Gold mitgebracht!”

Die Frau wollte es zuerst nicht glauben, und der Mann beteuerte immer wieder, dass er die Wahrheit sprach. Die Frau aber schüttelte den Kopf.

“Hier bist du, aber ich sehe nichts von dem, was du mitgebracht! Wo hast du es gelassen, älterer Bruder, sag’ es mir!”

Der Mann antwortete:

“Ich habe nicht gewagt, meinen Schatz hier heraufzubringen. Ich hatte Angst, dass du, oh meine jüngere Schwester, vor Freude in Ohnmacht fallen würdest. Darum habe ich ihn unter dem großen Baum an der Ecke unseres Gartens versteckt. Morgen früh holen wir ihn uns her. Jetzt aber lass uns schlafen, der eine mit dem andren!”

Der Räuber hatte alles gehört. Nun eilte er zu der Stelle, die der Mann beschrieben. Als die beiden, Mann und Frau, am Morgen hingingen, um den Sack mit dem Golde zu holen, mussten sie feststellen, dass das Versteck leer war.

Nun waren sie wieder so arm wie zuvor, hatte der Mann doch den Rat des Einsiedlers verworfen, er möge schweigen, wenn eine Frau ihn ausfragt.

Diese Geschichte hat hier ihr Ende.


Unsere Dorfgeschichten sind dem hübsch illustrierten Buch „Der Reiche und das Waisenkind“ entnommen, herausgegeben von Christian Velder (Foto). Der deutsche Philologe mit Wohnsitz in Chiang Mai hat über viele Jahre thailändische Volkserzählungen übersetzt und gesammelt. Das Buch mit 120 Geschichten kostet 680 Baht. Velders Buch „Der Richter Hase und seine Gefährten“ enthält reich illustrierte Volkserzählungen. Der kleine und zerbrechliche Hase gilt in Südostasien als ein Tier von Klugheit und List. Das Buch kostet 480 Baht. Beide Bücher sind in Pattaya erhältlich in den Buchläden DK an der Soi Post Office und der Central Road, in den Bookazine-Geschäften in der Royal Garden Plaza und im Central Festival Center/Big C, bei Amigo Tailor an der Soi Diamond, im Restaurant Braustube an der Naklua Road sowie in der FARANG-Geschäftsstelle an der Thepprasit Road.

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