„Na, endlich“! schrie der Kerl, der neben mir im Liegestuhl am Strand lag, und schleuderte eine Zeitschrift auf den Tisch, „dat wurde aber ooch ma Zeit“. Seine Frau sah ihn fragend an. „Die Rejierung hat die Bettelei in Thailand verboten. Von mir aus können se dat janze Gesocks ins Meer treiben. Dann ist endlich Ruhe“.
Er hatte sich in Rage geredet, und das schwere goldene Kreuz, das er an einer Kette um den Hals trug, schlingerte wild hin und her. Mit Bedauern stellte ich fest, dass er für seine üblen Beschimpfungen durchaus anerkennende Blicke seiner Nachbarn erntete. „Und was ist mit dem christlichen Gebot der Nächstenliebe“?, fragte ich ihn und deutete auf sein Kreuz. „Ach leck mich“!, war seine Antwort. „Meine Nächsten det is meine Familje. Fertig, aus!“. Ich zog mich an und verließ diesen Ort der empörenden Äußerungen. Unfassbar für mich.
Mitleid empfinden für Hilfsbedürftige, das ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Ein kleiner Schein für die einbeinigen oder einarmigen Bettler tut mir nicht weh. Vielleicht trägt es dazu bei, dass deren Familien genug zu essen bekommen. Auch mir tut diese kleine Gabe gut, selbst wenn Freunde gelegentlich kritisch anmerken, dass dieser oder jener Bettler, wenn er nicht einer kambodschanischen Bettler-Bande angehört, gleich um die Ecke sein Auto stehen hat. Ich bezweifle das, aber wenn schon…
Was mich immer gestört hat, sind bettelnde Frauen am Straßenrand mit einem Baby im Arm, das häufig ausgeliehen ist und mit Medikamenten ruhig gestellt wird. Denen gebe ich grundsätzlich nichts, wie auch nicht den Kindern, die, statt in die Schule zu gehen, Kaugummi oder Blumen verkaufen. Die Polizei versucht immer wieder, sie einzusammeln und über die Grenze abzuschieben, anstatt die Hintermänner festzunehmen, die sie ihren Eltern für ein Taschengeld abgekauft haben, um sie in den thailändischen Touristenzentren auf jede Weise schamlos auszunehmen.
Ich kann nachvollziehen, dass die Regierung diesem Gewerbe ein Ende bereiten will. Gleichzeitig frage ich mich, von was die Behinderten, die bisher auf das Betteln angewiesen waren, in Zukunft leben sollen. Der Staat gibt darauf keine Antwort und natürlich auch kein Geld. Von sozialen Hilfen, von Suppenküchen oder Tafeln – wie z. B. in Deutschland - kann hier in Thailand nicht die Rede sein.
Mitleid heißt, sich einzufühlen in einen anderen Menschen, dem es schlecht geht, der Hilfe braucht. Damit hat die menschliche Kultur einmal angefangen. Aber das ist schon lange her. Heute denken die meisten zuerst an ihre eigene Sicherheit. Diejenigen, die sich offen für andere einsetzen, gelten oft als romantische Dummköpfe, die dazu führen, dass weitere Einwanderer, Flüchtlinge oder Asylanten sich eingeladen fühlen.
Hier in Thailand habe ich immer wieder beobachtet, dass gerade jene Thais, die selbst kaum genug zum Leben haben, den Bedürftigen etwas zustecken, während die Farangs, beim Wein auf der anderen Straßenseite sitzend, nur abwehrend die Hände heben oder wegsehen. Klar, sie sind hier, um Urlaub zu machen, das Leben zu genießen, Sonne, Sand und Meer. Wenn sie schon Geld rausrücken müssen, dann wollen sie auch etwas dafür haben – was an dieser Stelle nicht besonders erläutert werden muss.
Am liebsten opfern die Thais für Buddha, für den Wat oder für die Mönche. Sie geben gerne und erwarten dafür auch keinen Dank, denn ihr Opfer ist ja für ihr Karma im nächsten Leben bestimmt. Gläubige Thais geben häufig mehr aus für ihr Karma als für ihre Familie, denn die Familie ist endlich, das Karma aber unendlich. Deshalb haben diese Opfer auch kaum mit Mitleid zu tun sondern mit Selbstvorsorge. Dennoch habe ich bisher den Eindruck gewonnen, die Thais kümmern sich mehr um ihre Nächsten als anderswo. Aber sie sind ja auch keine Christen.
Klar, auf der ganzen Welt gibt es Menschen, die sich für andere einsetzen, ebenso wie es überall Menschen gibt, die ihre Augen verschließen vor dem Leid der Hilfsbedürftigen, Leute, die sich lustig machen über jene, die den Ärmeren gerne etwas von ihrem Überfluss abgeben. Egoismus ist angesagt und weltweit auf dem Vormarsch. Aber keiner ist eine Insel. Plötzlich wird der Egoist schwer krank. Wer, außer den Ärzten, wird sich noch um ihn kümmern? Vielleicht erkennt er in dieser Situation, warum er keine Freunde hat, warum niemand bereit ist, sich ihm zuzuwenden. Wird er, wenn er seine Krankheit glücklich überwunden hat, ein anderer Mensch? Wird er Humanität und Mitleid entwickeln für andere? Nach meiner Erfahrung bleibt er der, der er immer war, auf sich selbst zentriert und abweisend gegen alle, die seiner Hilfe bedürfen.
Umso mehr bewundere ich alle, die von dem Wenigen, das sie ihr eigen nennen, noch für Ärmere etwas übrig haben. Nach großen, weltweiten Katastrophen haben die Deutschen beispielsweise mehr gespendet als alle anderen europäischen Länder zusammen. NGO’s, nicht regierungsabhängige Organisationen haben in aller Welt mit den Spenden der hilfsbereiten Bevölkerung das Elend in vielen Ländern zumindest eindämmen können.
Ich möchte diese Kolumne mit einer Fabel beenden: Ein Mann schrie immer wieder um Hilfe: Wölfe, schrie er, ich werde von Wölfen angegriffen. Als die Helfer kamen, um ihm beizustehen, da lachte er sie aus. Aber eines Tages brachten Wölfe ihn wirklich in größte Bedrängnis und er schrie nach Hilfe. Aber da kam keiner mehr, die Wölfe zerrissen ihn.
Fazit: Wer das Mitleid ausnutzt, wird es irgendwann nicht mehr bekommen. Wer das Mitleid verweigert, wird irgendwann einsam und allein sterben.