Haitis Regierung ruft Ausnahmezustand aus

Nach Angriff auf Gefängnis

Einwohner verlassen ihre Häuser mit ihren Habseligkeiten in der Nähe des haitianischen Nationalgefängnisses nach dem Angriff bewaffneter Banden gestern Abend in Port-au-Prince. Foto: epa/Siffroy Clarens
Einwohner verlassen ihre Häuser mit ihren Habseligkeiten in der Nähe des haitianischen Nationalgefängnisses nach dem Angriff bewaffneter Banden gestern Abend in Port-au-Prince. Foto: epa/Siffroy Clarens

PORT-AU-PRINCE: Die Eskalation der Gewalt erreicht in Haiti einen neuen Höhepunkt. Banden greifen das Nationalgefängnis an und ermöglichen Inhaftierten die Flucht. Nun ruft die Regierung den Ausnahmezustand aus.

Angesichts der eskalierenden Lage in Haiti nach einem Angriff bewaffneter Banden auf das Nationalgefängnis in der Hauptstadt Port-au-Prince hat die Regierung einen mindestens dreitägigen Ausnahmezustand ausgerufen. Die öffentliche Verwaltung, der Handel, die Industrie und die Schulen würden in dieser Zeit funktionsfähig bleiben, teilte die Regierung am Montag mit und fügte hinzu, dass der Ausnahmezustand im gesamten Département West, zu dem die Landeshauptstadt gehört, gelten und verlängert werden könne. Zusätzlich werde bis Mittwoch in der Zeit von 18.00 Uhr abends bis 5.00 Uhr morgens eine Ausgangssperre verhängt, «um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen». Die Regierung habe den Schritt «in Anbetracht der Angriffe bewaffneter Banden auf die beiden größten Strafvollzugsanstalten des Landes» gemacht, «die zu Toten und Verletzten bei der Polizei und beim Gefängnispersonal, zur Flucht gefährlicher Gefangener und zur Verwüstung dieser Einrichtungen geführt haben».

Bewaffnete Banden hatten am Samstag das Nationalgefängnis angegriffen und dabei offenbar Hunderten Inhaftierten die Flucht ermöglicht. Die Polizisten hätten die Banditen nicht daran hindern können, eine große Anzahl von Gefangenen zu befreien, die unter anderem wegen «Entführung, Mord und anderen Straftaten» inhaftiert waren, teilte die Regierung mit. Die Angaben in den Medien zu den Entflohenen variierten - von Hunderten bis nahezu allen knapp 3700 Inhaftierten war die Rede. Mehrere Menschen wurden bei dem Angriff am Samstag laut offiziellen Angaben verletzt, auch Tote soll es gegeben haben. Die Zahl der Opfer wurde nicht genannt. Außerdem hatte es auch einen weiteren Angriff auf ein Gefängnis östlich der Hauptstadt in Croix-des-Bouquets gegeben. Ob Inhaftierte dort auch flüchten konnten, wurde nicht mitgeteilt.

In dem Nationalgefängnis in der Hauptstadt sollen 3696 Menschen inhaftiert gewesen sein, wie die Zeitung «Miami Herald» unter Berufung auf das örtliche UN-Büro berichtete. In der Regierungsmitteilung wurde keine Zahl genannt, wie viele von ihnen flohen. Der Generalkoordinator des Anwaltskollektivs für die Verteidigung der Menschenrechte (Caddho) in Haiti, Arnel Remy, berichtete von weniger als 100 übrig gebliebenen Insassen und veröffentlichte in den sozialen Medien Bilder von verwüsteten Zellen mit geöffneten Türen. Überprüfen ließen sich seine Angaben nicht. Der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Volker Türk, bezeichnete die Situation in Haiti am Montag als «äußerst besorgniserregend».

Die Kriminellen hatten ihren Angriff dem «Miami Herald»-Bericht zufolge mit Drohnen vorbereitet, um sich über die Bewegungen der Gefängniswärter zu informieren und den besten Zeitpunkt für den Angriff zu bestimmen. Die nationale Polizei werde alles daran setzen, die entflohenen Gefangenen zu verfolgen und die Verantwortlichen für diese kriminellen Handlungen und ihre Komplizen festzunehmen, damit die «öffentliche Ordnung wiederhergestellt werden kann», teilte die Regierung mit.

Haiti versinkt immer mehr in Gewalt und Kriminalität. Der Karibikstaat liegt zwischen Nord- und Südamerika auf der Insel Hispaniola. Auf der Osthälfte der Insel befindet sich die Dominikanische Republik. Dort werde das Grenzpersonal militärisch aufgestockt, zitierte die Zeitung «Listín Diario» den Generaldirektor der Cesfront. Dieser Spezialkorps des Verteidigungsministeriums der Dominikanischen Republik ist für die Kontrolle und den Schutz der Landesgrenze zwischen den beiden Staaten zuständig.

Haiti ist das ärmste Land auf dem amerikanischen Kontinent. Seit Jahren leidet es unter Korruption, Gewalt und Naturkatastrophen. Seit dem verheerenden Erdbeben 2010 mit mehr als 220.000 Toten hängt Haiti am Tropf der Entwicklungshilfe. Ein weiteres schweres Erdbeben im Jahr 2021 forderte über 2000 Todesopfer. Ein Choleraausbruch hat seit Oktober 2022 laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zu Zehntausenden von Verdachtsfällen und Hunderten von Todesfällen geführt.

Kurz nach der Ermordung des haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse am 7. Juli 2021 übernahm Interimspremierminister Ariel Henry die Regierungsgeschäfte in Haiti. Seitdem hat sich die Sicherheitslage in dem Land dramatisch verschlechtert. Brutal agierende Banden kontrollieren nach UN-Schätzung rund 80 Prozent der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince und weiten ihr Einflussgebiet zunehmend auch auf andere Teile des Landes aus. Wahlen gab es seitdem keine, das Land hat weder einen Präsidenten noch ein Parlament. Zuletzt gab es heftige Proteste gegen den Interims-Regierungschef. Nach einem Treffen der karibischen Staatengemeinschaft Caricom wurde der Premierminister der Bahamas, Philip Davis, vom «Miami Herald» mit den Worten zitiert, Henry habe sich bereiterklärt, bis Ende August 2025 Wahlen abzuhalten.

Der UN-Sicherheitsrat hatte im Oktober 2023 auf Bitten der Regierung Haitis einen internationalen Polizeieinsatz in dem Karibikstaat gegen die Ganggewalt genehmigt. Dafür war Henry in Kenia, das sich bereit erklärte, die Federführung zu übernehmen und rund 1000 Polizeibeamte in den armen Karibikstaat zu entsenden. Während der Abwesenheit des Regierungschefs legten kriminelle Banden seit Donnerstag vergangener Woche in Teilen von Haitis Hauptstadt das öffentliche Leben mit Waffengewalt lahm. Schüsse fielen unter anderem am internationalen Flughafen. Mehrere Polizisten wurden nach Regierungsangaben getötet. In sozialen Medien wurde ein Video verbreitet, in dem der berüchtigte Bandenanführer und Ex-Polizist Jimmy «Barbecue» Chérizier sagt, die Gewalt ziele darauf ab, eine Rückkehr des Interimspremierministers Henry von einer Kenia-Reise zu verhindern. Auch sollten der Polizeichef und Kabinettsmitglieder des Karibikstaates gefangen genommen werden. Die Gewalt verschärft die prekäre Versorgungslage - fast die Hälfte der elf Millionen Bewohner Haitis leidet laut Vereinten Nationen unter akutem Hunger.

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