Bahnhofsgeschichten

Bahnhofsgeschichten

Bahnhöfe sind für mich in jeder Stadt die interessantesten Orte. Hier findet der oftmals schmerzliche Abschied von Menschen statt, die sich nahestehen. Hier treffen sich Menschen wieder, die vielleicht lange getrennt waren. In allen Städten, die ich besucht habe, war ich manchmal über Stunden oder Tage als Beobachter auf zugigen und trostlosen Bahnsteigen unterwegs, um die Freuden oder die menschlichen Tragödien mitzuerleben, die hier täglich stattfinden.

Tief eingeprägt hat sich mir eine alte Frau im langen, schwarzen Mantel, die von morgens bis abends auf einem Bahnsteig in Mainz stand. Ihre knochige Hand umfasste einen Strauß roter Tulpen, die schon am zweiten Abend ihre Köpfe hängen ließen. Auf wen wartete sie? Ich weiß es nicht. Traurig und mit gesenktem Haupt verließ sie, nachdem der letzte ICE-Zug den Bahnhof passiert hatte, den Ort, an dem ihre Hoffnungen begraben wurden. Vielleicht war sie verwirrt. Vielleicht wartete sie auf jemand, der schon lange tot war. Am dritten Abend ließ sie die verwelkten Blumen in einen Abfalleimer fallen. Danach habe ich sie nie wieder gesehen.

Auf dem kleinen Bahnhof in Pattaya beobachtete ich einen jungen Thai. Dem Zug aus Bangkok entstieg nur eine Person, eine ältere Frau. Es könnte die Mutter des jungen Mannes sein, dachte ich mir. Als sie ihn erblickte, ließ sie ihren Koffer fallen und lief ihm entgegen. Sie fielen sich in die Arme und umklammerten sich weinend. Dabei beachteten sie nicht, dass der Koffer der Frau sich durch den Aufprall geöffnet hatte und sein Inhalt sich über die Geleise verteilte. Ich half ihnen dabei, die verstreuten Gegenstände wieder einzusammeln. Dabei fiel mir ein Buch von Thomas Mann in die Hände. Ich sah die ältere Thai-Dame fragend an. Sie sagte in akzentfreier deutscher Sprache, sie sei zwanzig Jahre lang, bis zum Tod ihres Mannes in Frankfurt verheiratet gewesen und kehre nun zurück zur Familie ihres Sohnes. Mutter und Sohn luden mich ein, sie zu besuchen. Ein paar Tage später traf ich die beiden Thais in ihrer Villa in Na-Jomtien wieder, wo sie mich großzügig bewirteten. Natürlich lernte ich auch die Familie des jungen Mannes kennen, seine bildhübsche Frau und ihre beiden kleinen Söhne. Er war Arzt im Bangkok Pattaya Hospital und sprach fließend Englisch und Deutsch. Nach kurzer Unterhaltung stellte sich heraus, dass er regelmäßig den FARANG las und mich durch meine Kolumnen in dieser Zeitschrift kannte. Seitdem haben wir uns häufig besucht und sind gute Freunde geworden.

Zum Schluss möchte ich noch von einer Begegnung auf dem Hamburger Hauptbahnhof berichten. Nach einer Lesung in einer großen Buchhandlung wartete ich auf den Zug, der mich nach Mainz zurückbringen sollte, als plötzlich ein schüchterner junger Mann auf mich zukam und mir meinen Roman „Schlangencurry“ entgegenhielt; „Würden Sie bitte dieses Buch signieren?“ Er war nach der Lesung heimgefahren, hatte meinen Roman geholt und war zum Bahnhof geeilt, da ich zum Schluss der Lesung erwähnt hatte, anschließend mit dem Zug nach Mainz zurückzufahren. Dann stellte sich heraus, dass ich meinen teuren Mont Blanc-Füllfederhalter in der Buchhandlung liegen gelassen hatte. Er hatte auch kein Schreibgerät zur Hand. Da der Zug wenige Minuten später abfahren sollte, einigten wir uns darauf, er würde den Füller aus der Buchhandlung abholen und mir zuschicken, während ich sein Buch mitnahm, um es ihm mit einer Widmung zurückzusenden. Wir tauschten unsere Adressen aus und verabschiedeten uns.

Zuhause stellte ich überrascht fest, dass sich in seinem Exemplar eine Kritik aus der „Welt“ befand, die er selbst geschrieben hatte, eine Kritik über meinen Roman. Mein Verleger hatte es versäumt, mir diese Kritik zukommen zu lassen. Ich war sehr erstaunt über dieses kleine sprachliche Kunstwerk und nahm telefonischen Kontakt zu seinem Verfasser auf. Er gestand mir, diese Kritik sei seine erste veröffentlichte Arbeit gewesen, an der er lange „gebastelt“ hätte. Ich gratulierte ihm und schickte ihm mit seinem Buch meinen ersten Gedichtband zu.

Das ist nun schon etliche Jahre her. Inzwischen gehört dieser damals noch so schüchterne junge Mann zu den bekanntesten deutschen Kritikern. Da er zufällig auch ein Thailand-Fan ist, freue ich mich darauf, ihn bald wieder in Pattaya oder in Phuket begrüßen zu dürfen.

Manchmal geben Bahnhöfe ihre Geheimnisse preis. Und manchmal ergeben sich daraus spannende Geschichten.

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