Beobachtungen am Straßenrand

Beobachtungen am Straßenrand

Ich liebe es, am Straßenrand zu sitzen und die vo­rübergehenden Menschen zu beobachten. Das ist für mich höchst spannend, zumal ich mir dabei jedes Mal überlege: Was ist das für ein Mensch? Welchen Beruf übt er aus? Woher kommt er? Wo lebt er und wie? Der Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt.

Da kommt ein älterer Mann. Im Arm hält er eine junge Thailänderin. Ich denke, der Altersunterschied beträgt mindestens vierzig Jahre. Er hat sein Berufsleben längst beendet. Sie hat es noch gar nicht begonnen. Sie machen einen entspannten, fast glücklichen Eindruck. Seine Haut ist weiß. Lange scheint er noch nicht hier zu sein. Aber es ist ja bekannt: In Pattaya bleibt keiner lange allein. Aus Deutschland? Sieht so aus. Die Werbung auf seinem T-Shirt „HSV“ lässt darauf schließen. Vielleicht ehemaliger Sportler, Trainer oder Sport-Funktionär. Er ist allein nach Thailand gekommen. Entspannungsurlaub? Er sei ihm gegönnt.

Die Thai-Frau, die auf der anderen Straßenseite vorübereilt, trägt auf ihrem Kopf einen mit Eis gefüllten Beutel. Wo kommt sie her? Wo will sie hin? Sie trägt Schmuck, ist nicht arm, aber auch nicht reich. Vielleicht selbständig. Oder auf dem Weg zu einem Kunden. Möglicherweise ist sie eine private Pflegerin und kümmert sich um einen alten Farang. Jedenfalls strahlt sie Selbstbewusstsein aus. Ich würde mich mit ihr nicht anlegen wollen.

Plötzlich laufen zwei junge Männer händchenhaltend an mir vorbei. Der eine blond, kaum dreißig Jahre alt, Nordeuropäer. Ich schätze Norweger oder Schwede. Der andere, ein Thai, sieht aus, als wäre er gerade fünfzehn Jahre alt, aber er ist sicher schon über zwanzig. Keiner dreht sich hier nach ihnen um. Wozu? Ein alltäglicher Anblick. Sie sind erwachsen. Wissen was sie tun und können machen, was sie wollen. Ein Kurzzeit-Liebespaar für den Urlaub.

Dann schieben sich zwei Frauen in mein Bild, Asiaten, vielleicht aus Korea. Ihr Alter ist schwer abschätzbar. Sie gestikulieren lebhaft, scheinen sogar zu streiten. Um was? Um einen Mann? Der sitzt zuhause und weiß von nichts. Wäre doch typisch. Eine der beiden, die größere trägt einen Hosenanzug und kurz geschnittene Haare. Ist sie eifersüchtig auf ihre Freundin? Sie könnten auch Japanerinnen sein. Trotz des scheinbaren Streits gehen sie sehr liebevoll miteinander um.

Der Mann, der mit nacktem Oberkörper so dicht an mir vorüberjoggt, dass ich seinen Körpergeruch wahrnehme, hält sein T-Shirt in der Hand. Ja, es ist heiß, aber er fällt schon auf, will sogar auffallen. Vermutlich Amerikaner, etwa fünfzig Jahre alt. Ich stelle ihn mir an der Börse vor, hochkonzentriert. Es geht um enorme Beträge. Zum Ausgleich treibt er Sport. Er kann es sich leisten, überall auf der Welt Urlaub zu machen. Davon zeugt auch das goldene Kreuz um seinem Hals, aus dem ein dicker „Brilli“ glitzert. Bestimmt echt, ebenso wie die massive Armbanduhr. Die goldene Brille hat er sich auf den Kopf geschoben. Alles etwas protzig. Dass er sich dadurch auch in Gefahr bringen könnte, scheint ihm nicht bewusst zu sein. Er hat wohl noch keine schlechten Erfahrungen gemacht.

Der von oben bis unten tätowierte Typ, der jetzt auftaucht, scheint mir etwas „neben der Kapp“ zu sein, wie man bei uns sagt. Engländer oder Deutscher mittleren Alters. Er hält ein Bild in die Höhe, das ich nicht erkennen kann, und stößt dabei unartikulierte Laute aus. Besoffen, bekifft oder krank? Ich frage mich, wie so ein Mensch hier lebt. Oder gehört das Paar zu ihm, das ihm in einigem Abstand folgt? Es lässt kein Auge von ihm. Wenn er stehen bleibt – und er bleibt alle paar Schritte stehen – bleiben auch die beiden Verfolger stehen. Mir erschließt sich der Zusammenhang nicht. Aber es ist interessant darüber nachzudenken.

Schon taucht ein anderer Typ auf, den ich bereits häufiger gesehen habe. Er trägt seinen Bauch wie eine Trommel vor sich her und versucht den Eindruck zu erwecken, als ob er ein Mann von Bedeutung wäre. Ist er aber nicht. Für mich eher ein Versager. Seine Kleidung ist unmodern und schon ziemlich abgetragen. Schwer einzuordnen. Vielleicht ein pensionierter Preisboxer. Seine schiefe Nase lässt diesen Schluss zu. Natürlich könnte sie auch das Ergebnis einer Schlägerei sein. Ich bin davon überzeugt, dass er keiner Prügelei aus dem Weg geht.

Bei der fetten Madame, die jetzt in mein Blickfeld gerät, bin ich sicher: Sie ist krank oder fresssüchtig, Französin, geschätzt fünfzig Jahre alt, gut situierte Witwe und mit einigen „Klunkern“ behängt. Sie dreht ihren Kopf nach allen Seiten, lächelt irgendwie in eine nicht vorhandene Kamera und erweckt den Eindruck, als ginge sie gerade über den roten Teppich bei einer Gala-Veranstaltung. Dabei kann ihr Hinterteil es mit jeder Zuchtsau aufnehmen. War sie früher mal schön, Schauspielerin? Nicht auszuschließen. Aber bestimmt nicht sehr erfolgreich. Sie jagt immer noch der nie erhaltenen Anerkennung hinterher, zugegeben mit ungetrübtem Selbstvertrauen.

Die junge Thai-Lady, die so angestrengt auf ihren High Heels das Gleichgewicht zu halten versucht, ist meiner Meinung nach einen Tick zu sehr herausgeputzt, könnte ein Ladyboy, ein Kathoey sein. Sie lächelt mich an. Hält mich wohl für einen potenziellen Kunden. Ich wende mich ab. Sorry, nicht mein Geschmack. Sie – oder er – hat auch schon ein anderes mögliches „Opfer“ erspäht und stöckelt mit wa­ckelndem Po davon.

Der kleine alte Thai, der sich plötzlich vor mir aufbaut, grinst mich mit offenem Mund an, in dem sich zwei schwarze Stümpfe befinden, Reste seiner Zähne. Um seinen Hals hängt an ledernen Riemen ein hölzerner Kasten, den er aufgeklappt hat. „Vitamine, Vitamine“ stößt er mit kehliger Stimme hervor. Ich schaue genau hin: Ausschließlich Potenzmittel, Viagra, Cialis, Levitra, Kamag­ra. „Cheap, cheap“. Ich schüttle den Kopf. Er zuckelt grinsend weiter.

Es ist dunkel geworden. Jemand tippt mir auf die Schulter. Klaus und Hans-Werner. „Kommst du mit ins „Dicks-Cafe“? Warum nicht? Dort gibt es auch einiges zu beobachten, außerdem kann man dort im Kreise lieber Freunde seinen Hunger und Durst stillen. Der Tag ist gerettet.

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