Lob des Alters

Lob des Alters

Ich bin ein alter Mann, der die Restzeit seines Lebens mit großer Freude genießt. Voraussetzung dafür sind Gesundheit und wirtschaftliche Unabhängigkeit, über die ich glücklicherweise verfüge.

Ich lebe abwechselnd in Deutschland und in Thailand, habe auf meine alten Tage eine wunderbare Familie bekommen, indem ich meinen langjährigen Freund mit seiner Frau und seinen Kindern adoptierte, und blicke dankbar auf ein gelungenes Lebenswerk zurück. Dieses Glück ist nicht vielen Menschen vergönnt. Trotzdem singe ich ein Loblied auf das Alter.

Wenn ich jüngere Generationen beobachte, befällt mich oft Traurigkeit. Rastlos eilen sie imaginären Zielen nach, oder sie hocken im Wartesaal zum großen Glück und hoffen vergeblich darauf, dass es ihnen einfach in den Schoß fällt. Der alte Mann, der (fast) alles machen kann, aber nichts machen muss, ist voller Mitleid für sie. Er erinnert sich an frühere Zeiten, als Genügsamkeit sein Leben bestimmte. Ja, auch damals gab es Leute, die immer darauf bedacht waren, mehr zu haben als andere, mehr als sie brauchten. Aber den meisten Menschen gelang es doch, ein zufriedenes Leben zu führen ohne Hast und ohne Neid.

Ich sehe die junge Mutter vor mir, die ihren Kindern nicht die teuren Markenklamotten kaufen kann, mit denen ihre Schulkameraden protzen, und gleichzeitig freue ich mich, wenn gemeinsame Schuluniformen eingeführt werden, die solche Probleme verhindern. Ich sehe Kinder, die schon lange keine Kinder mehr sind, die es vielleicht nie waren, weil man ihnen von frühester Jugend an beigebracht hat, dass genug niemals genug ist. Und dann sehe ich die alte Frau, die ihren kranken Mann im Rollstuhl durch den Park schiebt. Sie lächelt. Sie hat Ruhe in ihrem Leben gefunden. Sie ist gesund, sie hat ihren Mann, sie ist zufrieden, vielleicht sogar glücklich.

Die jungen Leute an der Ecke beachten sie nicht. Sie sind berauscht von Alkohol und Drogen und erwarten nichts als die nächste Dröhnung. Gestern Abend wurde genau an dieser Stelle eine Frau ausgeraubt. Vor der Polizei gab sie an, dass die Täter noch sehr jung waren. Nein, sagte sie, die Vermutung der Polizisten, es seien wahrscheinlich Ausländer gewesen, könne sie nicht bestätigen. Zuvor hatte sie ihre betagten Eltern in einem Seniorenheim besucht, beide waren über achtzig Jahre alt, beide hatten ein einfaches, ausgefülltes Leben geführt, ihre Kinder mit Liebe großgezogen und erfreuten sich jetzt der freundlichen Pflege, mit der sie im Heim umsorgt wurden.

Der Respekt vorm Alter, der uns als Kinder noch beigebracht wurde, geht in den westlichen Ländern zusehends verloren. Nicht so in Südostasien, insbesondere nicht in Thailand. Wenn ich das Songthaew besteige, reichen sich mir hilfreiche Hände entgegen. Sofort steht jemand auf und bietet mir seinen Platz an. Das ist in Deutschland schon lange keine Selbstverständlichkeit mehr, weil gegenseitige Rücksichtnahme immer mehr verloren geht und langsam aus unserem Alltag verschwindet.

Was mag den jungen Leuten von heute blühen, wenn sie mal alt sind? Von Jahr zu Jahr nehmen die von Menschen verursachten Katastrophen zu. Angst und Misstrauen verhindern gemeinsame Rettungsversuche. Und immer noch gibt die Welt mehr Geld für Waffen und Kriege aus, als für den Kampf gegen Hunger und Durst, gegen Armut und Krankheit, unter dem vor allem Kinder und alte Menschen leiden – nicht nur in der sogenannten Dritten Welt.

Es mag egoistisch klingen, aber ich sage es frei heraus: Ich bin froh, so alt zu sein wie ich bin, denn ich muss einsehen, dass mein Engagement und das vieler Menschen auf allen Kontinenten unsere Welt nicht besser und nicht sicherer gemacht haben. Trotzdem bin ich von Resignation weit entfernt und nehme jeden Lichtblick als einen Hoffnungsschimmer auf, um meinen Optimismus nicht zu verlieren

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