Wann ist man ein Mann?

Wann ist man ein Mann?

Ich bin eigentlich nicht wehleidig. Ich habe schwere Krankheiten und Operationen überstanden, ohne zu jammern und ohne zu klagen. Aber wenn ich eine Erkältung bekomme, dann bin ich jedes Mal um eine Nahtoderfahrung reicher.

Ich leide laut vor mich hin und erwarte Mitleid von allen um mich herum. Ja, die sehen doch meine Qualen: Kopfschmerzen, Halsschmerzen, Gliederschmerzen, Fieber und Triefnase. Aus allen Gelenken ist die Kraft gewichen. Ich schaffe kaum noch den Gang ins Bad. Der Schweiß läuft mir in Bächen hinab. Vielleicht übertreibe ich ein wenig, aber die Erkältung auch. Sie hat mich hinterrücks überfallen und mich kampfunfähig gemacht. Geistig und körperlich bin ich für Tage ausgeschaltet.

„Wollt ihr nicht endlich den Arzt rufen?“ frage ich meine Nächsten. „Du hast eine ganz normale Erkältung“, erhalte ich zur Antwort. „Die kommt drei Tage, bleibt drei Tage und geht drei Tage. Bis der Arzt kommt, bist du längst wieder fit.“ Stöhnend lasse ich mich ins Bett zurückfallen. Die Familie hat keine Ahnung. Wer weiß, vielleicht grinsen sie sogar hinter meinem Rücken? „Könntet ihr bitte meine Bettwäsche wechseln? Sie ist völlig durchgeschwitzt.“  Okay. Ich warte derweil im Sessel und zittere am ganzen Körper. Christian hat Tabletten aus der Apotheke geholt. „Jetzt wird es dir gleich besser gehen.“ Während er mir ins Bett hilft, sagt er: „Du zitterst ja. Hast du etwa Schüttelfrost.“ Na, endlich versteht mich einer. „Ihr müsst einen Krankenwagen für mich bestellen.“ Christian bindet mir einen Schal um den Hals. „Wenn alle Leute sich wegen einer Erkältung ins Krankenhaus einweisen ließen, dann hätten wir eine echte Katastrophe.“ Mein Enkel Tino reicht mir ein Papiertaschentuch: „Komm, Opa, du bist doch ein Mann.“ Und seinem älteren Bruder Tiago fällt nicht anderes ein, als altklug hinzuzufügen: „Du gehörst zum starken Geschlecht, Opa.“

Wer diesen Begriff für Männer erfunden hat, muss jenseits aller Realität gelebt haben. Ich kenne Männer, die sich bei jeder Erkältung wochenlang krankschreiben lassen, ihr Testament aus dem Safe holen und nur mit größter Willensanstrengung überleben. Mir geht es ja ähnlich. Andere machen sich vor Angst in die Hose, wenn sie im Zahnarztstuhl sitzen. Sie schreien, wenn der Arzt zum Bohrer greift und verlangen zuerst eine, nein zwei Spritzen. Oder jene Freunde, die so dicht am Wasser gebaut haben, dass sie lauthals losheulen, wenn sie eine rührselige Geschichte lesen oder wenn im Fernsehen ein Schmachtfetzen gezeigt wird. Das starke Geschlecht, man sollte diesen Ausdruck nur in Anführungszeichen schreiben: „Das starke Geschlecht“ oder besser: „Das sogenannte starke Geschlecht.“

Meine Schwiegertochter Nok hat eine CD von Herbert Grönemeyer aufgelegt.

Er singt: Wann ist ein Mann ein Mann? Die ganze Familie schaut mich jetzt mitleidig an. Das ist mir auch zu viel. Oder wollen sie mich hänseln? Ich drehe mich verärgert auf die Seite, höre aber gut zu: „Männer brauchen viel Zärtlichkeit. Männer sind so verletzlich. Männer sind auf dieser Welt einfach unersetzlich...“ Zwischendurch verstehe ich nichts oder will nichts verstehen.

„Wann ist ein Mann ein Mann?“

Mit fünfzehn, mit 20 Jahren oder nie?

Meine Antwort ist: Ein Mann ist man, wenn man sich anständig und korrekt zu benehmen weiß. Und auf mich bezogen füge ich hinzu:

Sobald ich wieder fit und gesund bin. Und dann mit allen Fehlern und Schwächen, die das männliche Geschlecht „auszeichnen“.

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