Das Leben ist nichts für Feiglinge

Das Leben ist nichts für Feiglinge

Warum? Weil wir täglich Problemen ausgesetzt sind, mit denen wir kaum fertig werden. Schon als Kinder mussten viele von uns Situationen hinnehmen, die eigentlich nicht akzeptabel waren: Schlagende Lehrer, Eltern, Missbrauch durch Kleriker oder Verwandte, ja, es schien vielleicht sogar vielen normal, aber es war nicht okay.

Und wie ging es dann weiter? Wir wurden Lehrlinge, dumm, ausgenutzt und unterbezahlt. Danach tausend Versuche, irgendwo einen Platz zu finden, einen Job, der ein Auskommen ermöglichte. Dann kam die erste Liebe dazwischen. Ja, mit ihr würde ich gerne – aber wie? Mein Einkommen langt doch nicht. Ob sie bereit ist, auch zu arbeiten? Und dann das erste Kind. Sie kann nicht mehr arbeiten. Wir leben am untersten Ende der Gesellschaft. Trotzdem, wir wollen es schaffen. Und dann habe ich es endlich erreicht: Jetzt bin ich Abteilungsleiter. Jetzt können wir uns eine größere Wohnung leisten. Es scheint aufwärts zu gehen, wenn auch in kleinen Schritten. Dennoch bin ich immer noch ein kleines Licht in dem großen Konzern, und der große Traum vom tollen Urlaub liegt noch in weiter Ferne. Aber er kommt näher. Doch plötzlich war die Waschmaschine im Eimer. Kaum bezahlt, gab die Spülmaschine ihren Geist auf. Geht es denn immer so weiter? Ja, das Auto kommt nicht mehr durch den TÜV. Adieu alle schönen Urlaubsträume. Ohne Auto komme ich nicht mehr an meinen Arbeitsplatz.

Man braucht viel Kraft, um dabei immer noch optimistisch zu bleiben. Und dann wendet das Wort positiv sich auch noch ins Negative. Die geliebte Frau wird positiv auf Darmkrebs getestet. Jetzt geht es nur noch ums Überleben. Jeder Arztbesuch ist angstbesetzt. Achterbahn über Monate. Dazwischen die Angst um den Job. Die Firma hat Absatzprobleme. Die Tochter erträgt all diese Schicksalsprobleme nicht länger. Sie bricht ihre Schulausbildung kurz vorm Abi ab und bewegt sich inzwischen in weniger seriösen Kreisen. Wie sie es geschafft hat, mit einigen Freunden nach Thailand zu kommen, das bleibt mir immer ein Rätsel. Mit rechten Dingen kann das nicht zugegangen sein. Aber sie ist inzwischen achtzehn Jahre alt und kann tun und lassen was sie will. Die Mutter wird aus dem Krankenhaus entlassen, aber die einzige Tochter vergnügt sich in Thailand. Nach einem Monat der erste Anruf: Könnt Ihr mir bitte etwas Geld überweisen? Wovon denn? Das Fräulein Tochter spinnt. Ich fühle mich ausgebrannt. Die Erwartungen an das Leben tendieren gegen null. Mein Arzt will mich zur Kur schicken. Wie soll das denn gehen? Gar nicht. Eine Karte von der Tochter: Bitte 500 Euro schicken, dann komme ich sofort zurück. Okay, unter der Bedingung, dass sie sich um ihre Mutter kümmert, der ein Teil des Darmes fehlt. Ja, es klappt. Irgendwie ist Iris in Thailand reifer und erns­ter geworden. Sie pflegt ihre Mutter mit großer Hingabe, und wenn ich es richtig deute, sogar mit echter Liebe. Kann es jetzt wieder aufwärts gehen?

Die Mutter wird wieder relativ gesund. Die Firma ist durch einen neuen Investor wieder saniert. Die Tochter findet eine Lehrstelle in einem Technik-Unternehmen. Die Richtung stimmt. Dann der Anruf: Vater hatte einen schweren Verkehrsunfall und liegt in besorgniserregendem Zustand auf der Intensivstation. Iris glaubt inzwischen an ein schlechtes Karma aus früheren Leben, bemüht sich aber, das Familienleben weiterhin zu organisieren. Vater überlebt, kann aber nicht mehr arbeiten. Iris wird zum Familienoberhaupt. Die drei leben sparsam, aber trotzdem in geordneten Verhältnissen.

Der Lebenslauf dieser Familie ist vielleicht nicht typisch, aber auch nicht selten. Viele haben ähnliches erlebt und wissen: Das Leben ist nichts für Feiglinge, insbesondere dann, wenn Fortuna nicht mitspielt. Aber wenn man denkt, jetzt kommt nichts mehr, dann kommt plötzlich und unerwartet ein Lichtlein her: Fast ein kitschiger Abschluss: Die Tochter gewinnt in einer Lotterie 10.000 Euro. Und jetzt? Der Vater im Rollstuhl, die Mutter an Krücken. Der große Traum vom Urlaub ist nicht mehr vorstellbar. Aber einige Ausflüge sind jetzt möglich und versöhnen mit all den miesen Umständen, die das Leben dieser Menschen verursacht haben. Die Mutter stirbt mit 66 Jahren, der Vater drei Jahre später. Und die Tochter hat sogar Karriere gemacht. Mit viel Einsatz und Fleiß ist sie zur stellvertretenen Direktorin aufgestiegen. Sollte es doch noch ein Happy End geben? Jetzt plant sie für das nächste Jahr einen Urlaub in Thailand – vorausgesetzt, es kommt nichts mehr dazwischen…

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Francis Light 07.09.20 17:52
@Thomas Knauer
Ihren letzten Absatz kann man als das Gelassenheitsgebet zusammenfassen. Es gibt sogar einen eigenen Wikipediaartikel dafür. Funktioniert in der Theorie natürlich recht gut, aber in der Praxis ist es oft schwerer, das umzusetzen... ;)
Thomas Knauer 07.09.20 16:37
das ist doch Leben pur, es wird ein Plan gemacht für heute, für diese Woche, den Monat, die Zukunft und wir wissen, wenn wir es wollen das dies alles nur Makulatur ist. Jederzeit macht uns das Leben darauf aufmerksam das jeder Plan nur vorläufig ist und ständig den Gegebenheiten anzupassen ist. Das ist das Salz in der Suppe.
Jeder Tag hat die Chance der schönste im Leben zu sein und ich lebe so das es zumindest der wichtigste ist.
Über Dinge die ich nicht ändern kann werde ich keine Gedanken oder Energie verlieren, entweder ich kann diesem ausweichen oder ich arrangiere mich damit. Treten Dinge ins Leben die ich beeinflussen bzw ändern kann dann wird die Kraft nicht durch Ärger oder Aufregung vergeudet sondern es wird sich oder die Situation geändert. Funktioniert zu über 95%.
Francis Light 06.09.20 19:37
@Norbert
Also sehe ich nicht so. Ich finds angenehmer, wenn sich Dinge so halbwegs entwickle, wie ich mir sie vorher wünsche. Unvorhergesehens kann auch was gutes sein, aber meiner Erfahrung zu 80 bus 90% schlechtes. Gut, man kann es auch unflexibel nennen. Bin eher ein Zweckpessimist.

Corona find ich einfach scheusslich, und damit das ganze Jahr 2020 alles in allem unerfreulich, hauptsächlich, weils mit Thai Aufenthalten, geplant wäre gewesen, im März drei Wochen und heuer im Sommer drei Monate (hätte von meinem Arbeitgeber bzgl. Auszeit bekommen), alles vergessen kann/konnte. Zeit zuhause absitzen. Das hat meine ganze Jahresplanung auf den Kopf gestellt. :(

Wie das in Thailand gehandhabt wird, mit dem übetriebenen asiatischen Sicherheitsdenken, besonders mit der Einreise, bin ich überhaupt nicht einverstanden. Man muss es akzeptieren. We weiss, wies dort in Zukunft auch aussieht?

Wer konnte sich das vor einem Jahr vorstellen, dass das so lange dauert. Dachte vorher, im Mai/Juni sei das ganze erledigt.

Wer wird schon gerne älter? Alles lässt etwas nach, es fängt an, dort und da zu zwicken. Darum lieber jetzt leben, nicht zuviel daran setzen, in der Rente das nachzuholen, wozu man sich jetzt nicht die Zeit nehmen möchte. Wer weiss, was passieren kann? Mein Vater, gerade in Rente hatte mit 64 Jahren einen Unfall, vom Hals abwärts gelähmt. 12 Jahre, bis zum Ende Pflegefall, im eigenen Körper gefangen. Alle seine Pläne, das Leben in der Pension noch zu geniessen, weg.
Rene Amiguet 06.09.20 14:52
Berg und Tal Bahn
Auf und ab wie im richtigen Leben, so ergeht es tausenden. Gute Story!