Grundlegende Erkenntnisse zur Menschheitsgeschichte

​«Visionär» Pääbo 

Der schwedische Evolutionsforscher Svante Pääbo steht im Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig an der Nachbildung eines Neandertaler-Skeletts. Foto: Hendrik Schmidt/dpa
Der schwedische Evolutionsforscher Svante Pääbo steht im Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig an der Nachbildung eines Neandertaler-Skeletts. Foto: Hendrik Schmidt/dpa

STOCKHOLM/LEIPZIG: Aus dem Genom ausgestorbener Menschenarten lassen sich grundlegende Ereignisse der Menschheitsgeschichte ableiten. Mit seiner Forschung hat Svante Pääbo ein boomendes Forschungsfeld erschlossen - das bis vor kurzem noch undenkbar war.

Nur selten lässt sich der Beginn einer ganzen Forschungsrichtung auf einen einzelnen Wissenschaftler zurückführen. Bei Svante Pääbo, dem diesjährigen Empfänger des Nobelpreises für Medizin, ist es so: Er gilt als Begründer der Paläogenetik - also der Erforschung prähistorischer Arten anhand ihres Erbguts. Vor allem aber hat der Direktor am Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie (MPI-EVA) Rätsel zur Herkunft des Menschen geklärt, die noch vor kurzem unlösbar schienen: Der Homo sapiens hat sich im Lauf der Evolution mit inzwischen ausgestorbenen Menschenarten vermischt - und dabei Teile ihres Erbguts übernommen.

Pääbo sei ein «visionärer Wissenschaftler», betont Jean-Jacques Hublin, ebenso wie Pääbo Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts in Leipzig. Er sei Vater eines Forschungsfeldes, «das noch vor einer Generation undenkbar war», und habe das Studium der menschlichen Evolution revolutioniert.

Das überschwängliche Lob ist nicht übertrieben. Der 1955 in Stockholm geborene Pääbo hat das Erbgut des Neandertalers entschlüsselt und mit dem Denisova-Menschen eine bis dato unbekannte weitere ausgestorbene Menschenart identifiziert. Doch die bahnbrechendste Erkenntnis ist, dass diese Verwandten des Homo sapiens teilweise in uns weiterleben.

Denn diese drei Menschenarten zeugten miteinander Nachwuchs, und die meisten Menschen tragen Erbanlagen dieser Ahnen in sich. Bei Europäern stammen etwa 1 bis 2 Prozent des Erbguts von Neandertalern, Ostasiaten tragen 1 bis 6 Prozent Erbgut von Denisova-Menschen. Der Gentransfer hat vielerlei Folgen, etwa für unser Aussehen, aber auch für unsere Gesundheit.

Beispiel Covid-19: Ein Team um Pääbo berichtete 2020 im Fachblatt «Nature», dass eine von Neandertalern stammende Genvariante das Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf etwa verdreifacht. Eine andere Neandertaler-Variante dagegen mildere das Risiko für einen schweren Verlauf, berichteten Pääbo und Kollegen 2021 im Fachblatt «PNAS». Die Bewohner des tibetischen Hochplateaus wiederum verdanken den Denisova-Menschen eine Variante des Gens EPAS1, die das Leben in großer Höhe ermöglicht.

Diese und andere Erkenntnisse fußen auf einer eigens entwickelten Methode: dem Isolieren und Aufbereiten uralter DNA. Denn Neandertaler starben vor etwa 40.000 Jahren aus, Denisova-Menschen eventuell noch früher. Weil DNA schnell zerfällt und überdies durch zahllose andere Organismen kontaminiert wird - bis zu 99,9 Prozent des Erbguts können etwa von Bakterien und Pilzen stammen -, hielten es viele Forscher für ausgeschlossen, das Erbgut ausgestorbener Menschenarten zu entschlüsseln.

Schon als Doktorand an der Universität Uppsala veröffentlicht Pääbo - als Einzelautor - 1985 im Fachblatt «Nature» einen Text zum Erbgut einer ägyptischen Mumie. Mitte der 1990er Jahre, damals noch an der Universität München, entschlüsselt er Neandertaler-Erbgutsequenzen aus den Mitochondrien - den Kraftwerken der Zellen. Die Studie zeigt, dass Neandertaler keine Vorfahren des Menschen waren, sondern Vettern.

Ein ausgeklügeltes Verfahren, das im Zellkern enthaltene Erbgut zu entschlüsseln, entwickelt Pääbo ab 1997 am von ihm mitgegründeten Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie. Dort arbeitet das Team unter Reinraumbedingungen, um weitere Kontaminationen der aus Zähnen oder Knochen extrahierten DNA zu verhindern. Zudem entwickelt es Software, um die Neandertaler-DNA - etwa durch Abgleiche mit dem Erbgut von Menschen und Schimpansen - von anderer DNA abzugrenzen und wie ein Puzzle zusammenzusetzen.

Im Jahr 2010 stellen Pääbo und Kollegen Neandertaler-DNA aus dem Zellkern vor. Der Abgleich mit dem Erbgut des Homo sapiens ergibt, dass die letzten gemeinsamen Vorfahren beider Arten vor etwa 800.000 Jahre lebten. Weitere Vergleiche zeigen, dass bei Europäern und Asiaten 1 bis 2 Prozent des Erbguts von Neandertalern stammt, nicht aber bei Afrikanern. Der Homo sapiens hatte sich also, so die Folgerung, nach dem Verlassen von Afrika mit den in Europa und Vorderasien lebenden Neandertalern vermischt. 2014 entschlüsseln Pääbo und Kollegen das Neandertaler-Genom fast komplett.

Schon zuvor, im Jahr 2012, identifiziert er aus Funden in einer Höhle in Sibirien eine weitere, bis dahin unbekannte Menschenart. Dieser Denisova-Mensch war eng verwandt mit den Neandertalern und hatte sich seinerseits ebenfalls mit dem Homo sapiens vermischt - und Spuren in dessen Erbgut hinterlassen.

«Durch seine bahnbrechende Forschung hat Svante Pääbo eine völlig neue wissenschaftliche Disziplin begründet, die Paläogenetik», schreibt das Nobelpreis-Komitee. «Pääbos Entdeckungen haben eine einzigartige Quelle erschlossen, die ausgiebig von der wissenschaftlichen Gemeinschaft genutzt wird, um Evolution und Wanderungen des Menschen besser zu verstehen.» Derzeit soll die Methode so verfeinert werden, dass auch ältere oder aus einem ungünstigen Klima stammende DNA rekonstruiert werden kann.

Was kommt als Nächstes? Die genetischen Unterschiede zwischen Mensch und Neandertaler seien bekannt, sagt Johannes Krause, ebenfalls Direktor am Leipziger Max-Planck-Institut. Nun gelte es zu verstehen, was genau diese Veränderungen bewirken. «Das heißt: wirklich auf molekularer Ebene verstehen, was den Menschen zum Menschen macht.» Dies könne dazu beitragen, die Gründe für den Erfolg des Menschen in der Evolution zu verstehen.

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