Musterländle im Krisenmodus: Präsidentenwahl

José Antonio Kast, Kandidat der Republikanischen Partei für das Amt des Präsidenten von Chile. Foto: epa/Alberto Valdes
José Antonio Kast, Kandidat der Republikanischen Partei für das Amt des Präsidenten von Chile. Foto: epa/Alberto Valdes

SANTIAGO DE CHILE: Nach Jahrzehnten der Stabilität driftet das südamerikanische Land auseinander: Inmitten massiver gesellschaftlicher und politischer Umbrüche gelten ein linker Protestanführer und ein ultrarechter Pinochet-Sympathisant bei der ersten Wahlrunde als Favoriten.

Südamerikas einstiges Musterland Chile steht bei der Präsidentenwahl an diesem Sonntag am Scheideweg. Mit dem Linkspolitiker Gabriel Boric und dem Rechtsaußen-Kandidaten José Antonio Kast haben zwei Vertreter der extremen Enden des Parteienspektrums die besten Chancen auf den Einzug in die Stichwahl. «Wir stehen wohl vor der polarisiertesten Wahl seit 1970», sagt Roberto Izikson vom Meinungsforschungsinstitut Cadem.

Insgesamt bewerben sich bei der ersten Runde am Sonntag sieben Kandidaten um das höchste Staatsamt. Da eine direkte Wiederwahl verfassungsrechtlich verboten ist, darf Amtsinhaber Sebastián Piñera nicht kandidieren.

Lange galt Chile als leuchtendes Beispiel in der von Armut, Gewalt und politischer Unruhe geprägten Region. Das Land hat das höchste Pro-Kopf-Einkommen in Südamerika, und die Armut konnte in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gesenkt werden. Zudem verfügt Chile über eine aktive Zivilgesellschaft, seit der Rückkehr zur Demokratie wechselten sich gemäßigte linke und rechte Regierungen ab.

Heute steckt Chile in der Krise: Wegen Brandanschlägen und Attacken radikaler Indigener vom Volk der Mapuche hat die Regierung in einigen Regionen im Süden des Landes den Notstand erklärt. Präsident Piñera ist einem Amtsenthebungsverfahren wegen eines zweifelhaften Bergbau-Deals in dieser Woche nur knapp entgangen.

Zudem leidet das Land auch unter einer großen sozialen Ungleichheit. Weite Teile des Gesundheits- und Bildungswesen sind privatisiert, immer größere Teile der Bevölkerung fühlen sich abgehängt. Vor zwei Jahren gingen deshalb über Wochen hinweg jeden Tag Tausende Menschen gegen die Regierung auf die Straße. Die Protestwelle entzündete sich zunächst an einer leichten Erhöhung der Metropreise. Doch bald ging es um Grundsätzliches: Die Demonstranten forderten einen besseren Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung sowie eine Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftssystem.

Mit einer ihrer Hauptforderungen konnten sie sich schließlich durchsetzen: Derzeit arbeitet eine Verfassungsgebende Versammlung eine neue Verfassung aus. Der aktuelle Text stammt noch aus der Zeit der Militärdiktatur von General Augusto Pinochet (1973-1990). Am Sonntag werden auch alle Abgeordneten und die Hälfte der Senatoren neu gewählt. Sollte die neue Verfassung in einem Referendum angenommen werden, ist es an den Parlamentariern, die darin vorgesehenen politischen und sozialen Reformen auch umzusetzen.

Einer der Anführer der Proteste war der heute gerade einmal 35 Jahre alte Boric, der sich am Sonntag für das linke Wahlbündnis «Apruebo Dignidad» (Ich stimme der Würde zu) um das Präsidentenamt bewirbt. «Chile war die Wiege des Neoliberalismus, es wird auch sein Grab sein», sagte der Abgeordnete der Region Magallanes im Wahlkampf.

Sein härtester Konkurrent ist der deutschstämmige Jurist Kast von der Republikanischen Partei. Der Vater von neun Kindern will Steuern senken, die Zuwanderung begrenzen und hart gegen Kriminelle vorgehen. Er hat sich nie deutlich von der Pinochet-Diktaur distanziert und sympathisiert mit dem ultrarechten brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro.

Neben den beiden Favoriten werden auch der Senatspräsidentin Yasna Provoste von der christdemokratischen Partei und dem unabhängigen Kandidaten Sebastián Sichel vom Regierungsbündnis «Chile Vamos» Chancen auf den Einzug in die Stichwahl eingeräumt.

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