Vor 50 Jahren putschte das Militär in Chile

Bomben auf La Moneda

Blick auf das brennende Gebäude des Moneda-Palastes in der chilenischen Hauptstadt. Foto: picture alliance/dpa
Blick auf das brennende Gebäude des Moneda-Palastes in der chilenischen Hauptstadt. Foto: picture alliance/dpa

SANTIAGO DE CHILE: Am 11. September 1973 um 12.00 Uhr mittags stirbt die chilenische Demokratie im Bombenhagel. Kampfflugzeuge vom Typ Hawker Hunter donnern über den Regierungssitz La Moneda in Santiago de Chile hinweg und feuern Raketen auf das neoklassizistische Gebäude im Herzen der chilenischen Hauptstadt ab. Mit dem Luftangriff beginnt der Militärputsch unter dem Kommando von General Augusto Pinochet gegen die demokratisch gewählte sozialistische Regierung von Präsident Salvador Allende.

«Ich werde nicht zurücktreten. In diesem historischen Moment werde ich für die Loyalität des Volkes mit meinem Leben bezahlen», sagte Allende in seiner letzten Radioansprache, als bereits die Panzer durch die Straßen rollten. «Sie haben die Macht, sie können uns unterdrücken, aber soziale Prozesse lassen sich weder durch Verbrechen noch durch Gewalt aufhalten. Die Geschichte gehört uns, und sie wird vom Volk gemacht.» Als die Soldaten in den Regierungssitz eindrangen, erschoss sich der Präsident mit einer Kalaschnikow.

Am Montag gedenkt Chile der Opfer der brutalen Militärdiktatur, die vor 50 Jahren begann und erst 1990 wieder endete. Zur Gedenkstunde werden der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der mexikanische Staatschef Manuel López-Obrador, der argentinische Präsident Alberto Fernández und der kolumbianische Staatschef Gustavo Petro erwartet. Deutschland wird von Bundesratspräsident Peter Tschentscher vertreten.

Auch ein halbes Jahrhundert nach dem Staatsstreich spaltet der Putsch noch immer die chilenische Gesellschaft. In rechten Kreisen wird die Machtübernahme der Militärs oft positiv bewertet. Viele Menschen glauben, dass Allende die Verfassung brechen und ein kommunistisches System in Chile errichten wollte. In einer Umfrage bezeichneten zuletzt weniger als die Hälfte der Befragten Pinochet als Diktator.

«Die Diktatur von Pinochet war vom ersten Moment an kriminell», sagte hingegen der linke Präsident Gabriel Boric kürzlich auf einem Universitätskongress. «Unterschiedliche Meinungen sind in einer Demokratie legitim. Nicht legitim ist, weiterhin zu behaupten, dass die Bombardierung von La Moneda und die Errichtung einer Diktatur ein Weg zur Lösung der Probleme der Demokratie seien.»

Nach 50 Jahren hätte Chile nun die Chance, sich von den letzten Überresten der Militärdiktatur zu lösen. Derzeit wird eine neue Verfassung ausgearbeitet - das aktuelle Grundgesetz stammt noch aus der Zeit von Pinochet. Der erste Entwurf mit einem Recht auf Wohnraum, Bildung und Gesundheit sowie einer Frauenquote von 50 Prozent in allen Staatsorganen war vielen Chilenen wohl zu progressiv und scheiterte krachend in einer Volksabstimmung. Im zweiten Anlauf haben im Verfassungsrat jetzt die rechten Parteien das Sagen - und nur wenig Interesse an weitreichenden Reformen.

Die Konservativen wollen auch die zentrale Gedenkstunde zum 50. Jahrestag des Militärputsches boykottieren und die von der Regierung vorgelegte «Erklärung von Santiago» zur Verurteilung des Staatsstreiches nicht unterzeichnen. «Die Regierung zwingt uns ihre einseitige Wahrheit auf, sie glaubt, dass es nur eine Sicht auf die Dinge gibt», sagte der Vorsitzende der rechten Partei UDI, Javier Macaya.

Die Familien der Opfer der Militärdiktatur beklagen ihrerseits, dass viele Verbrechen nie aufgeklärt und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Noch immer werden die sterblichen Überreste von 1469 während der Militärdiktatur verschleppten und vermutlich getöteten Menschen gesucht. Lediglich 307 Leichname von ermordeten Dissidenten wurden den Angehörigen übergeben.

«Die Verschleppten sind keine Nummern, sie waren Menschen, die eine bessere Welt aufbauen wollten», sagte die Vorsitzende des Verbands der Opferfamilien, Gaby Rivera, vor wenigen Tagen bei der Vorstellung eines nationalen Plans zur Suche nach den Verschleppten. «Als unsere Angehörigen verschleppt wurden, ist auch unser Leben stehengeblieben.»

Viele Regierungsgegner verschwanden auf dem Gelände der vom deutschen Laienprediger Paul Schäfer gegründeten «Colonia Dignidad». Der chilenische Geheimdienst brachte Dissidenten auf das abgelegene Areal, um sie im Kartoffelkeller zu foltern und später auch zu töten. «In der Colonia Dignidad wurden wahrscheinlich über 100 Menschen getötet, es gab sexualisierte Gewalt, Misshandlungen, schwere Körperverletzung und Folter», sagt der Politikwissenschaftler Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL).

Deutsche Behörden wussten bereits seit den 1960er Jahren von den in der Colonia Dignidad verübten Verbrechen. Weil die rechte Militärdiktatur von General Pinochet während des Kalten Krieges eher zu den Verbündeten der Bonner Regierung gehörte und es auch persönliche Kontakte zwischen deutschen Diplomaten und der Führungsriege der Colonia Dignidad gab, wurde den Hinweisen allerdings nicht nachgegangen.

«Die damalige Rolle vor allem deutscher Diplomaten ging von Wegsehen über Vertuschung bis zu impliziter Mittäterschaft. Durch Unterdrücken von Informationen, sogar teilweise Bindung an ein verbrecherisches Regime und deren Helfer, hat man Mitverantwortung für Folter und sexuellen Missbrauch durch den perversen Sadisten Paul Schäfer und seine Clique», sagt der menschenrechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Michael Brand, der sich seit Jahren für die Entschädigung der Opfer und den Aufbau einer Gedenkstätte einsetzt. «Das hat sich Gott sei Dank fundamental verändert, Deutschland stellt sich seiner Verantwortung.»

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Norbert Kurt Leupi 11.09.23 19:20
So war es ... / Thomas Sylten
denn 1974 war ich mit einer in die Schweiz geflüchteten Chilenin , die Anwältin in der damals existierenden MIR , einer Bewegung , die von einem Neffen S.Allende geführt wurde , liiert ! Begeistert war sie allerdings nicht besonders von S.Allende , weil er auch hohe Militärs als Minister in der Regierung hatte !
Thomas Sylten 11.09.23 18:30
Guter, umfassender Artikel -
nur in einem Punkt darf ich berichtigen:
Dass Präsident Allende sich mit einer Kalaschnikov selbst tötete, ist Pinochet-Propaganda - das weiß in Chile jedes Kind, nur bei uns wird an dieser damals verbreiteten falschen Version (offenbar mangels besseren Wissens) festgehalten:
Es war Bedingung der USA für eine Anerkennung der neuen "Regierung" unter Pinochet, dass kein rechtmäßiger Amtsträger mehr legitime Ansprüche stellen konnte -
implizit die Anweisung, den legalen Präsidenten final zu beseitigen, um Pinochet als neuen Präsidenten anerkennen zu können.
Daher wurde Allende beim Sturm auf La Moneda direkt erschossen - womit sein Platz "vakant" und für Pinochet frei war.
Ingo Kerp 11.09.23 13:40
Der deutsche Vertreter wird sich wohl für die Geuel der Colonia Dignidad entschuldigen, die das Pinochet-Regime unrühmlich unterstützt hat.