Letzter Flüchtlingsbus aus Berg-Karabach eingetroffen

Foto: epa/Dima Korotayev
Foto: epa/Dima Korotayev

ERIWAN/BAKU: Nach der Massenflucht von Armeniern aus der von Aserbaidschan zurückeroberten Region Berg-Karabach sucht das Rote Kreuz dort weiter nach Zurückgebliebenen. Die neuen autoritären Machthaber wollen dort nun Zehntausende Menschen ansiedeln.

Nach der Rückeroberung der Südkaukasusregion Berg-Karabach durch Aserbaidschan hat nach armenischen Angaben der vorerst letzte Flüchtlingsbus das Konfliktgebiet verlassen. Damit seien nun 100.514 zwangsweise umgesiedelte Bewohner in Armenien angekommen, sagte Regierungssprecherin Naseli Bagdassarjan am Montag. Einige Menschen verließen Berg-Karabach auch mit Privatfahrzeugen. Viele Vertriebene hätten gesundheitliche Probleme oder seien bettlägerig, sagte Bagdassarjan.

Derweil sucht das Rote Kreuz mit Megafonen in den Straßen nach Zurückgebliebenen. Eine bettlägerige Frau sei ohne Vorräte so in einer Wohnung entdeckt worden, sagte Marco Succi vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) am Dienstag. Er sprach aus der Karabach-Hauptstadt Stepanakert über Videolink mit Reportern in Genf. Die Frau sei inzwischen mit dem Krankenwagen nach Armenien gebracht worden.

Nach Angaben von Succi sind in der Jahrzehnte von Armeniern bewohnten Stadt nur noch einige hundert Menschen. Auf den Straßen sei aserbaidschanische Polizei zu sehen. Strom und Wasser funktionierten. Er habe bislang nicht gesehen, dass aserbaidschanische Zivilisten in die verlassenen Wohnungen und Häuser gezogen seien.

Die aserbaidschanische Führung betonte einmal mehr, dass es keinen Grund für eine Flucht gebe und die Armenier gemäß den Gesetzen des Landes in das Leben integriert würden. Die Südkaukasusrepublik Aserbaidschan ist anders als Armenien ein autoritär geführtes Land ohne Medienfreiheit oder demokratisch gewählte Führung und steht wegen Menschenrechtsverstößen international in der Kritik.

Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev sagte bei einer Veranstaltung am Montag, dass sich das Land seit langem durch eine Gesellschaft mit vielen Ethnien und Konfessionen auszeichne. «Wir leben wie eine Familie», sagte er aserbaidschanischen Medien zufolge. «Jetzt ist die Zeit gekommen, um Frieden zu schaffen im Kaukasus. Unsere Agenda ist Frieden in der Region, eine Zusammenarbeit und gegenseitiger Nutzen», sagte er in der Hauptstadt Baku. Aliyev hatte zuvor die Ansiedlung von Zehntausenden Aserbaidschanern in Berg-Karabach angekündigt.

Dagegen wirft die armenische Regierung den aserbaidschanischen Behörden eine ethnisch motivierte Vertreibung in Berg-Karabach vor. Die dort verbliebenen Armenier befürchteten Verfolgung und Gewalt. Aserbaidschan hatte mit einer Militäroffensive in der vorvergangenen Woche die seit Jahrzehnten umkämpfte Region zurückerobert.

Die Führung der international nicht anerkannten Republik Arzach (Berg-Karabach) hatte danach kapituliert und die Selbstauflösung zum 1. Januar 2024 besiegelt. Während der kurzen, aber schweren aserbaidschanischen Angriffe starben in Berg-Karabach armenischen Angaben zufolge rund 200 Menschen, 400 weitere wurden verletzt.

Die Vereinten Nationen teilten mit, dass sich eine UN-Expedition am Sonntag selbst ein Bild von der Lage in der Region gemacht habe. Das Team habe keine Schäden an der zivilen öffentlichen Infrastruktur festgestellt, das gelte auch für Krankenhäuser, Schulen und Wohnungen sowie kulturelle und religiöse Gebäude. Geschäfte seien aber offenbar ausnahmslos geschlossen gewesen.

Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu sagte am Dienstag, dass auch rund 32.000 Kinder aus Karabach in Sicherheit gebracht worden seien. Die nach dem Krieg um die Region dorthin entsandten russischen Soldaten hätten zuletzt auch zwischen Aserbaidschan und der Karabach-Führung den Waffenstillstand «vermittelt», um eine höhere Zahl an Opfern zu verhindern, sagte er in Moskau. Das durch Einnahmen aus dem Öl- und Gasverkauf hochgerüstete Aserbaidschan ist Armenien militärisch haushoch überlegen.

Viele Armenier werfen ihrer Schutzmacht Russland hingegen vor, Karabach einfach den Aserbaidschanern überlassen zu haben. Kommentatoren in der Region sahen darin auch einen Racheakt des Kreml am armenischen Regierungschef Nikol Paschinjan, der sich zuletzt stark den USA zugewandt hatte.

Zum Ärger Russlands ratifizierte das armenische Parlament am Dienstag das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Die Opposition boykottierte die Abstimmung. Das Gericht in Den Haag hatte unter anderem gegen Kremlchef Wladimir Putin Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine erlassen. Armenische Politiker hatten nach Warnungen aus Moskau beteuert, dass sich die Anerkennung des Gerichts nicht gegen Russland richte. Demnach droht Putin dort keine Festnahme. Es gehe vielmehr darum, Verbrechen Aserbaidschans verfolgen zu lassen, hieß es.

Inmitten der Spannungen mit Aserbaidschan hat Armenien dem Nachbarland Angriffe im Grenzgebiet vorgeworfen. Die aserbaidschanische Armee habe das armenische Gebiet Gegarkunik beschossen und dabei im Ort Kut einen armenischen Soldaten getötet und zwei weitere verletzt, teilte das Verteidigungsministerium in Eriwan am Montag mit. Die Männer hätten in einem Fahrzeug Verpflegung für armenische Grenzsoldaten transportiert.

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