WARSCHAU/FRANKFURT/ODER: Trotz eines neuen Zauns an der EU-Außengrenze zu Belarus kommen dort Tausende Migranten nach Polen und weiter nach Deutschland. Es sind viel mehr als vor einem Jahr. Doch zwei Fakten überraschen.
Wieder ein weißer Transporter ohne Fenster zur Ladefläche. Wieder heben die Polizisten in den Warnwesten die Kelle. Der Fahrer muss die hinteren Türen aufmachen. Aber da ist nichts Verdächtiges. Weiter geht es. Stundenlang suchen die Beamten im Strom der Fahrzeuge auf der Stadtbrücke in Frankfurt an der Oder nach Migranten und Geflüchteten, die unerlaubt von der polnischen Seite aus eingeschleust werden. Erstmal vergeblich.
Hintergrund dieser mobilen Grenzkontrolle ist die steigende Zahl von Menschen, die über Belarus nach Polen und von dort weiter nach Deutschland kommen. 2021 gab es schon einmal Wirbel um die sogenannte Belarus-Route, die Tausende aus Krisengebieten in die Europäische Union brachte. Jetzt scheinen Russland und Belarus die Route neu zu beleben. Polen hat zwar über weite Strecken an seiner EU-Außengrenze einen 5,5 Meter hohen Zaun mit elektronischer Überwachung gebaut. Doch das kann viele nicht stoppen.
An allen deutschen Grenzen registrierte die Bundespolizei im ersten Halbjahr mehr unerlaubte Einreisen als in der gleichen Zeit ein Jahr zuvor - 45.338 im Vergleich zu 29.174. Besonders stark aber war der Anstieg an der deutsch-polnischen Grenze: von 4592 auf 12.331. Die Zahl der auf dieser Route Ankommenden in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg hat sich im Vergleich zum ersten Halbjahr 2022 verdoppelt, in Sachsen waren es viermal so viele wie ein Jahr zuvor.
Nach polnischer Einschätzung helfen die belarussischen Behörden kräftig mit. Vizeregierungschef Jaroslaw Kaczynski nannte geduldete Grenzübertritte von Flüchtlingen zuletzt einen Angriff auf Polen und kündigte an, den Grenzzaun zu verlängern. Schon 2021 warf die EU dem Minsker Machthaber Alexander Lukaschenko vor, in organisierter Form Migranten aus Drittstaaten an die EU-Außengrenze zu bringen, um Druck auf den Westen auszuüben. Nun sagt eine Sprecherin des polnischen Grenzschutzes der Deutschen Presse-Agentur in Warschau: «Belarus möchte an dem Geschäft mit den Migranten weiter verdienen.»
Regelmäßig beobachteten polnische Grenzer, wie belarussische Sicherheitskräfte Gruppen von Migranten in organisierten Transporten zur Grenze bringen. «Die kennen das Grenzgebiet sehr genau, suchen bestimmte Abschnitte aus und sagen den Migranten auch, welcher Moment für die Überquerung günstig ist», sagt die Sprecherin. Die Migranten würden von den Belarussen mit Leitern, Schaufeln und anderen Geräten zum Überwinden des Grenzzauns ausgestattet. Die polnische Statistik vermerkt seit Jahresbeginn gut 16.500 Versuche zur Überwindung der Grenze. Allein im Juni waren es 3000. Im gesamten Jahr 2022 lag die Zahl bei 15.700.
Sind die Menschen erst auf EU-Gebiet, werden sie nach Erkenntnissen der Behörden von Schleusern abgeholt und zur deutsch-polnischen Grenze gefahren. Mitte Juli nahmen Ermittler der polnischen Polizei zum Beispiel neun mutmaßliche Schleuser fest. Die Bande soll seit 2021 mindestens 200 Menschen durch Polen geschleust haben, zu Preisen von etwa 5000 Euro pro Person.
Auf deutscher Seite bestätigt die Bundespolizei eine Zunahme der Fälle, bei denen Schleuser dingfest gemacht wurden. Im ersten Halbjahr waren es 1007, im Vergleich zu 940 ein Jahr zuvor. Auch wenn die Kontrollen an der Frankfurter Stadtbrücke an diesem Nachmittag nichts zutage fördern - in den vergangenen Tagen wurden immer wieder mutmaßliche Menschenschmuggler in Brandenburg entdeckt.
Am Sonntagabend stoppte die Polizei einen Ford Transit mit neun Menschen aus Afghanistan und vier aus Iran. Am Montagmorgen waren es bei Forst 27 syrische Staatsangehörige auf der Ladefläche eines Fiat Ducato, darunter acht Kinder. Am Dienstag entdeckten Polizisten in einem polnischen Auto bei Frankfurt an der Oder einen Syrer und drei Somalier. Und so weiter.
Die Menschen haben in der Regel nicht die nötigen Visa, Aufenthaltsrechte oder Ausweispapiere, deshalb gilt ihre Einreise als unerlaubt. Doch wenn sie in Deutschland Schutz beantragen wollen, kommen sie nicht etwa in Haft, sondern in eine Erstaufnahme. In Brandenburg ist dies das zentrale Ankunftszentrum in Eisenhüttenstadt, das noch vier weitere Standorte betreibt.
«Seit August letzten Jahres sind die Zugänge stabil sehr hoch», sagt Leiter Olaf Jansen. Täglich kämen 30 bis 50 Menschen, teils bis zu 80, die meisten über die östliche Route. Nach Jansens Worten ist derzeit Syrien die Nummer eins der Herkunftsstaaten vor Afghanistan und der Türkei. Daneben kämen Menschen aus dem Irak, aus Georgien und auch aus Russland. Bei jedem zweiten könne man schwarz auf weiß die Route verfolgen, weil sie Einreisestempel oder Visa aus Russland hätten. Von dort gehe es weiter über Belarus in die EU. «Das ist im Prinzip eine Schleuserroute, die gebucht wird», sagt Jansen.
Trotz hoher Zugangszahlen findet Jansen die Lage keineswegs so zugespitzt wie Ende 2021, als zeitweise Zelte für die vielen Menschen von der Belarus-Route aufgestellt wurden. Derzeit sei seine Einrichtung zu etwa 55 Prozent belegt - gut 2000 von 4000 Plätzen. Die Zahl baue sich langsam auf, aber nicht dramatisch. «Wir haben noch ein bisschen Reserve», sagt Jansen. «Und wir sind dabei, die Kapazitäten auszubauen.»
Anders als oft angenommen hat ein großer Teil der Menschen durchaus eine Chance auf Schutz in Deutschland. «Sehr viele, die zu uns kommen, werden anerkannt», sagt Jansen. Wer aus Syrien oder Afghanistan stamme, erhalte meist binnen drei Monaten Schutz als Flüchtling oder sogenannten subsidiären Schutz. «Die Anerkennungsquote des Bamf (Bundesamts für Migration und Flüchtlinge) steigt und steigt und steigt.» Das brandenburgische Innenministerium bestätigt das.
Und das Landesministerium hat noch eine Information, die in der teils hitzigen Migrationsdebatte überrascht: Es hat die «Zugangsprognose» für dieses Jahr reduziert - von 26.000 auf 19.000. Im Klartext: Das Innenministerium erwartet trotz der Zunahme auf der Belarus-Route insgesamt weniger Menschen als zu Jahresbeginn gedacht. Die Zahl der Ukraineflüchtlinge sei geringer als prognostiziert, erklärt ein Sprecher. Bis jetzt habe Brandenburg dieses Jahr rund 10.000 Menschen aufgenommen, 3000 aus der Ukraine und rund 7000 weitere Migranten.