Dramatischer Anstieg der Zahl der Toten befürchtet

Eine Gesamtansicht von Derna, Ostlibyen. Foto: epa/Mohamed Shalash
Eine Gesamtansicht von Derna, Ostlibyen. Foto: epa/Mohamed Shalash

BENGASI: In Libyen schwindet die Hoffnung, vermisste Menschen noch lebend zu finden. Allein in der von den Überschwemmungen schwer betroffenen Hafenstadt Darna wird mit bis zu 20.000 Toten gerechnet. Rettungskräfte stehen vor enormen Herausforderungen.

Nach den Überschwemmungen in Libyen könnte die Zahl der Toten noch dramatisch steigen. Besonders grauenhaft ist die Lage in der Hafenstadt Darna. «Wir erwarten eine sehr hohe Zahl von Opfern. Ausgehend von den zerstörten Bezirken in der Stadt Darna können es 18.000 bis 20.000 Tote sein», sagte Bürgermeister Abdel-Moneim al-Gheithy dem arabischen Fernsehsender Al-Arabija. Der Sturm «Daniel» hatte am Sonntag das nordafrikanische Land erfasst. Nahe Darna brachen zwei Dämme, ganze Viertel der 100.000 Einwohner zählenden Stadt wurden ins Meer gespült.

Verzweifelte Rufe nach mehr Hilfe

Rettungsteams suchten auch Tage nach dem Unglück weiter in den Trümmern nach Überlebenden. Doch die Hoffnung schwindet von Stunde zu Stunde. Geborgene Opfer wurden in Leichensäcken in Massengräbern verscharrt. Allein in Darna sind laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mehr als 30.000 Menschen obdachlos geworden. 10.000 Menschen gelten seit Montag als vermisst, wie viele davon seither tot oder lebend gefunden wurden, ist unklar.

UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths sagte: «Ganze Wohnviertel sind von der Karte verschwunden.» Die Lage sei «schockierend und herzzerreißend». Die vordringlichste Aufgabe sei es nun, die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern. Nach Einschätzung des Leiters der Libyen-Delegation beim Internationalen Roten Kreuz, Yann Fridez, könnte es «viele Monate, vielleicht Jahre dauern, bis die Anwohner sich von diesem riesigen Ausmaß an Zerstörung erholt haben».

Augenzeugen vor Ort berichteten der Deutschen Presse-Agentur, Darna sei noch immer «voller Leichen». Hilfe werde dringend benötigt. Insbesondere der Osten der Stadt sei weiter vom Rest abgeschnitten. Kommunikationsverbindungen seien teilweise komplett abgerissen.

Rettung gestaltet sich schwierig

Die Lage vor Ort stellt Rettungsteams vor enorme Herausforderungen. Zufahrtsstraßen wurden komplett weggeschwemmt, zentrale Brücken unter Schlammmassen begraben. Doch inmitten der Katastrophe gibt es immer wieder einzelne Lichtblicke. Nach rund 96 Stunden wurde etwa ein 20-Jähriger aus den Trümmern geborgen, wie das libysche Fernsehen al-Masar berichtete.

Zahlreiche Länder haben Hilfe angeboten. Aus Deutschland machte sich ein erstes Flugzeug mit Decken, Zelten, Feldbetten und Stromgeneratoren des Technischen Hilfswerks auf den Weg. Libyen hatte zuvor ein internationales Hilfeersuchen gestellt.

Auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen schickte ein Notfallteam. Es bestehe aus Logistikern und medizinischem Personal. Man bringe zudem Notfallausrüstung mit zur Behandlung von Verletzten und Leichensäcke. Weitere Hilfe kommt unter anderem aus den Nachbarländern Ägypten, Tunesien und Algerien sowie der Türkei. Auch Frankreich, Niederlande und Italien boten Unterstützung an. Die Vereinten Nationen kündigten Soforthilfe im Umfang von zehn Millionen Dollar an.

Verwundbarkeit Libyens wird deutlich

Beobachter geben den Behörden Mitschuld am Ausmaß der Katastrophe. Dies zeige auch die Tatsache, wie schwierig sich die Lage für Rettungsteams und Journalisten vor Ort gestalte, schreibt Wolfram Lacher, Libyen-Experte von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), auf der Plattform X (früher Twitter).

Seit dem Sturz von Langzeitmachthaber Muammar al-Gaddafi 2011 ringen zahlreiche Konfliktparteien um Einfluss. Derzeit kämpfen zwei verfeindete Regierungen - eine mit Sitz im Osten, die andere mit Sitz im Westen - um die Macht. Alle diplomatischen Bemühungen, den bis heute andauernden Bürgerkrieg friedlich beizulegen, scheiterten bislang. Infrastrukturmaßnahmen wurden jahrzehntelang verschleppt.

Ministerpräsident Abdul Hamid Dbaiba von der Regierung im Westen warf der rivalisierenden Regierung im Osten am Donnerstag vor, Wartungsverträge für die beiden Dämme nicht abgeschlossen zu haben, obwohl Gelder bereitgestellt worden waren.

Beobachter befürchten, dass sich die Wut über die Katastrophe auf den Straßen entladen könnte. «Der Schock, der in den kommenden Wochen in offene Wut umschlagen könnte, ähnelt dem, was die Aufstände Anfang 2011 auslöste», schreibt der Experte Jalel Harchaoui auf X.

Der Generalsekretär der Weltwetterorganisation, Petteri Taalas, sieht die Opferzahlen auch im Fehlen eines funktionierenden Frühwarnsystems begründet. Der Wetterdienst habe zwar vor einem herannahenden Unwetter gewarnt, aber nicht das Risiko genannt, das die alten Dämme, die später brachen, darstellten. Dann hätten die Rettungsdienste Evakuierungen vornehmen können, hatte Taalas zuvor gesagt. «Wir hätten die meisten der Opfer vermeiden können.»

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