Der Guerillero will nicht gehen

​Fünf Jahre nach Nicaraguas Aufstand

Ein Demonstrant marschiert mit einem Bild des nicaraguanischen Präsidenten Daniel Ortega. Foto: EPA-EFE/Jorge Torres
Ein Demonstrant marschiert mit einem Bild des nicaraguanischen Präsidenten Daniel Ortega. Foto: EPA-EFE/Jorge Torres

MANAGUA: Der Protest entzündete sich an einer Rentenreform, doch bald ging es um demokratische Freiheiten. Die Regierung von Daniel Ortega schlug die Demonstrationen blutig nieder. Fünf Jahre nach dem «Tag der Wut» sind die meisten Protest-Anführer im Exil.

In der Kirche des Barmherzigen Jesus erleben die Eingeschlossenen 15 dramatische Stunden. Bewaffnete Paramilitärs belagern das Gotteshaus in der nicaraguanischen Hauptstadt Managua, in dem rund 200 Studenten einer benachbarten Universität nach Protesten gegen die Regierung Zuflucht gesucht hatten. Zwei Studenten werden in der Nähe erschossen. Das Christusbild wird von Kugeln durchlöchert. Der Angriff auf die Kirche markierte das blutige Ende der sogenannten April-Rebellion gegen den autoritär regierenden Präsidenten Daniel Ortega, bei der 2018 in dem mittelamerikanischen Land Hunderte Menschen ums Leben kamen. Fünf Jahre später klammert sich der Ex-Guerillero noch immer an die Macht.

Mittlerweile lassen der 77-jährige Präsident und seine Frau, Vizepräsidentin Rosario Murillo, keinen Raum mehr für Kritik. «Ortega hat die gesamte Opposition und die führenden Stimmen in Nicaragua ausgeschaltet», sagt Medardo Mairena der Deutschen Presse-Agentur. Der Bauernführer war vor fünf Jahren an den Protesten beteiligt. Vor zwei Monaten wurde er mit 221 weiteren Regierungskritikern nach 19 Monaten Haft aus dem Gefängnis geholt und zur Ausreise in die USA gezwungen. Der Bischof Rolando Álvarez weigerte sich, in das Flugzeug zu steigen und wurde kurz darauf zu 26 Jahren Haft verurteilt. Die Staatsanwaltschaft warf ihm Ungehorsam, Untergrabung der nationalen Integrität und weitere Delikte vor.

Geistliche, ehemalige Studentenführer, Schriftsteller und Aktivistinnen wurden im Februar ausgebürgert und des Landes verwiesen. Die Regierung schob sogar frühere linke sandinistische Guerilleros, die in den 1970er Jahren mit Ortega gegen die Diktatur von Anastasio Somoza gekämpft und sich später von ihm distanziert hatten, in die USA ab. «Leider hat Ortega nicht den geringsten politischen Willen, einen Ausweg aus dieser politischen Krise zu finden», sagt Bauernführer Mairena. Derzeit lebt er im Exil in der US-Stadt Atlanta.

Die Proteste gegen die Regierung begannen am 18. April 2018. Am Tag darauf gingen bereits Tausende Menschen im ganzen Land auf die Straße, ein «Tag der Wut», wie die bekannte Schriftstellerin Gioconda Belli sagte. Zunächst demonstrierten vor allem Rentner und Studenten gegen eine geplante Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge. Von Anfang an gingen die Sicherheitskräfte hart gegen die Demonstranten vor. Schnell weiteten diese ihre Forderungen aus: ein Ende der Gewalt gegen Demonstranten, Pressefreiheit, der Rücktritt Ortegas nach damals elf Jahren an der Macht und vorgezogene und freie Wahlen.

In den folgenden drei Monaten kam es immer wieder zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen meist jungen Demonstranten und Sicherheitskräften sowie regierungsnahen Schlägertrupps. Die Barrikaden der Studenten und die Straßenblockaden der Bauernbewegung breiteten sich über ganz Nicaragua aus. Es wurden Schusswaffen, Tränengas, selbstgebaute Mörser, Steine und Molotowcocktails eingesetzt.

Nach einem gescheiterten Dialog unter der Vermittlung der katholischen Kirche bezeichnete Ortega die Proteste schließlich als Putschversuch und die Bischöfe als Terroristen. «Wir waren im Frieden, und was haben sie getan? Sie haben einen terroristischen Putsch organisiert», sagte der Präsident. Er beschuldigte die US-Regierung, dahinter zu stecken.

Bei den Protesten kamen nach Angaben der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (IACHR) mehr als 350 Menschen ums Leben, darunter 23 Polizisten. Hunderte weitere wurden verletzt. Die meisten Opfer seien Zivilisten aufseiten der Demonstranten gewesen, hieß es kürzlich in einem Bericht unabhängiger UN-Experten. Sie warfen der Regierung Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor.

Ortega ist seit 2007 im Amt. Nach dem Sturz der Somoza-Diktatur hatte er Nicaragua bereits von 1979 bis 1990 regiert, zunächst als Teil einer fünfköpfigen Junta und später als Präsident. Vor seiner umstrittenen Wiederwahl 2021 ließ Ortega sieben Gegenkandidaten festnehmen, darunter den Bauernführer Mairena. Die Regierung entzog rund 3000 Nichtregierungsorganisationen die Zulassung. Katholische Radiosender und regierungskritische Medien wurden geschlossen. Tausende Journalisten und Oppositionelle flohen aus dem Land. Seine Kritiker bezeichnen Ortega als Diktator.

Das Ziel, Ortega zum Rücktritt zu zwingen, hat der Aprilaufstand von 2018 nicht erreicht. «Was wir geschafft haben, ist, dass wir ihm vor den Augen der Welt die Maske abgenommen haben», sagt Mairena. «Die Welt soll sehen, wozu Ortega fähig ist.»

Aufgrund der internationalen Wirtschaftssanktionen und inneren Spannungen steht die sandinistische Regierung nach Einschätzung von Beobachtern bereits unter Druck. «Wir haben einige Risse innerhalb des Regimes gesehen», sagte die Lateinamerikaexpertin des Carter Centers, Jennie Lincoln, bei einer Veranstaltung der Denkfabrik Inter-American Dialogue. Neue Strategien, neue Akteure und mehr Druck von der internationalen Gemeinschaft seien allerdings nötig, um die Demokratie in Nicaragua wiederherzustellen.

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