Berg-Karabach streckt wegen der Angriffe Aserbaidschans die Waffen

Die armenische Bereitschaftspolizei steht mit Schilden bewaffnet vor dem Regierungsgebäude. Foto: epa/Narek Aleksanyan
Die armenische Bereitschaftspolizei steht mit Schilden bewaffnet vor dem Regierungsgebäude. Foto: epa/Narek Aleksanyan

BAKU/ERIWAN: Stundenlange aserbaidschanische Angriffe zwingen die armenischen Soldaten von Berg-Karabach zum Aufgeben. Zehntausende Zivilisten fürchten nun ein Leben unter feindlichen Machthabern. Vorwürfe richten sich dabei auch gegen Armeniens Schutzmacht Russland.

Am Ende war die aserbaidschanische Übermacht zu groß für die armenischen Verteidiger in Berg-Karabach: Nach nur einem Tag aserbaidschanischer Angriffe gaben sie am Mittwoch bekannt, einer Feuerpause zugestimmt zu haben - die eher einer Kapitulation gleichkommt. Denn Aserbaidschan stellte die Bedingung, dass die Karabach-Armenier ihre Waffen niederlegen und Kampfpositionen aufgeben. Die Behörden der nicht anerkannten Republik fühlten sich von der Welt im Stich gelassen: «In der aktuellen Situation sind die Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft zur Beendigung des Kriegs und zur Lösung der Situation unzureichend», erklärten sie.

Zu diesem Zeitpunkt sind in der Südkaukasus-Region armenischen Angaben zufolge bereits mehr als 30 Menschen getötet und über 200 weitere verletzt worden, unter ihnen auch Zivilisten. Aserbaidschans Armee hat das Gebiet um die Stadt Stepanakert stundenlang mit Artillerie, Raketen und Drohnen angegriffen, um es zu erobern. Sollten die armenischen Kämpfer sich wirklich zurückziehen, hätte Baku dieses Ziel wohl erreicht. An diesem Donnerstag wollen beide Seiten nun in der aserbaidschanischen Stadt Yevlax miteinander verhandeln. Die EU rief Aserbaidschan dazu auf, die Waffenruhe auch wirklich einzuhalten.

Das bereits seit Jahrzehnten zwischen den beiden Ex-Sowjetrepubliken umkämpfte Berg-Karabach liegt zwar auf aserbaidschanischem Staatsgebiet, wird aber mehrheitlich von ethnischen Armeniern bewohnt. Die Schätzungen zufolge rund 100.000 verbliebenen Bewohner der Region waren schon vor Beginn der jüngsten Angriffe in einer katastrophalen Lage, weil Aserbaidschan monatelang die einzige armenische Zufahrtsstraße, den Latschin-Korridor, blockierte. Lebensmittel, Medikamente und Benzin wurden knapp.

Nun ist ihre Zukunft noch ungewisser. Das autoritär geführte Aserbaidschan unter Präsident Ilham Aliyev spricht von der geplanten «Wiedereingliederung» Berg-Karabachs. Viele Armenier fürchten eine gewaltvolle Rache der Aserbaidschaner, weil sie so lange ausharrten und Widerstand leisteten.

Bereits am Dienstag hatten armenische Journalisten vor Ort Fotos und Videos veröffentlicht, die zeigen, dass - entgegen der Beteuerungen aus Baku - nicht nur militärische Objekte, sondern auch Wohnhäuser getroffen wurden. Familien harrten in Kellern aus, während über ihren Köpfen die Geschosse donnerten.

«Nach neun Monaten des Hungers sind wir nun in einem Bombenschutzkeller und schlafen hier mit Kindern, die gestern noch von Brot träumten und die heute davon träumen, morgen noch aufzuwachen», schrieb etwa die Reporterin Siranush Sargsyan auf der früher als Twitter bekannten Plattform X. «Ich weiß nicht, ob wir aufwachen werden, aber ich hoffe, ihr werdet uns dafür in Erinnerung behalten, dass wir diesem Genozid mit Würde entgegen getreten sind.»

Initiiert wurde die nun verkündete Feuerpause von russischer Seite. Sie trat am Mittwoch um 13.00 Uhr armenischer Zeit (11.00 Uhr MESZ) in Kraft und führte offenbar tatsächlich zu einer Abnahme der Kampfhandlungen. Doch viele Armenier sind trotzdem wütend auf Russland, das eigentlich traditionell als Schutzmacht des christlich-orthodoxen Landes gilt, während das muslimische Aserbaidschan auf die Türkei setzt.

In ihren Augen haben die in der Region stationierten russischen Soldaten die militärisch unterlegenen Armenier im Stich gelassen. Schon vor Ausbruch der jüngsten Eskalation hatten Beobachter gewarnt, das mit Öl- und Gaseinnahmen hochgerüstete Aserbaidschan könnte ausnutzen, dass Russland wegen seines eigenen Angriffskriegs gegen die Ukraine derzeit im Südkaukasus weniger präsent ist. Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan mahnte, die Russen müssten spätestens nun angesichts des aserbaidschanischen Vormarsches für die Sicherheit der Karabach-Armenier sorgen.

Moskau versicherte, die eigenen Soldaten blieben in Karabach stationiert und setzten unter anderem Evakuierungsmaßnahmen fort. Bis Mittwochabend hätten russische Kräfte 3100 Zivilisten in Sicherheit gebracht, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Den Militärangaben nach wurden mehrere in Karabach stationierte russische Soldaten durch Beschuss auf ihr Auto getötet. Der Vorfall habe sich am Mittwoch bei dem Ort Dschanjatag ereignet. Es wurde nicht gesagt, wie viele Angehörige der russischen Friedenstruppe getötet wurden.

Kremlsprecher Dmitri Peskow wies armenische Vorwürfe über russische Untätigkeit zurück. Er erklärte zudem, man beobachte derzeit «de jure Handlungen der Republik Aserbaidschan auf ihrem Staatsgebiet». Diese Äußerung ist insofern bemerkenswert, als dass Russland nach dem letzten Karabach-Krieg 2020 zugesagt hatte, die damals vereinbarte Waffenruhe in der Region zu überwachen.

Und so richten sich die in Armeniens Hauptstadt Eriwan aufgeflammten Proteste nicht nur gegen die eigene Regierung, von der die Menschen mehr Beistand für ihre Landsleute in Berg-Karabach fordern. Auch die russische Botschaft in Eriwan wurde bereits von wütenden Demonstranten umringt. Zwischenzeitlich war Angaben der russischen Diplomaten zufolge ein normaler Botschaftsbetrieb nicht mehr möglich.

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