Pilzen Luft zufächeln

übersetzt von Dr. Christian Velder

Pilzen Luft zufächeln

In einem Walddorfe ernähren sich die Bewohner von dem, was sie im Gehölz sammeln können, das sind Pilze aller Art, Kräuter, Wurzeln und Sprosse, Blüten, auch Bienen-, Wespen- und Hornissenwaben.

Unter den Dorfbewohnern gab es zwei Freunde. Der eine hieß Kaeo, Kristall, der andre Kham, Gold. Die beiden gingen stets gemeinsam in den Wald, so wie es ihnen ihre Freundschaft eingab. Ihre Eigenschaften jedoch waren so verschieden wie die Erde und der Himmel.

Kaeo war ein flinker und fleißiger Mann, der immerzu tätig sein wollte. Kham dagegen war bedächtig und langsam, was er tat, tat er zögerlich, das war ihm genug. Er lebte ohne Zeitgefühl dahin, in der friedvollsten Gemütsruhe.

Die Regenzeit begann, und die Pilze fingen zu sprießen an. Jetzt hieß es früh aufstehen und schon beim Morgengrauen in den Wald gehen. Jeden Tag war Kaeo als erster fertig und ging zum Hause von Kham, um den Freund abzuholen.

Eines Tages rief Kaeo nach seinem Freunde, und da erwies sich, dass Kham noch gar nicht aufgestanden war:

“Kham, woy , rief er, wenn du so spät erst aufstehst, sind keine Pilze mehr übrig, wenn du kommst!”

Schlaftrunken und missmutig erhob sich Kham und antwortete:

“Hey, warum müssen wir uns denn derartig abhetzen, Pilze zu sammeln ist doch nicht schwer. Wenn wir etwas später am Tag losgehen, setzen wir eben unsere aus Bambusfasern geflochtenen Hüte auf, wir werden auch dann noch genug Pilze finden, ich kann nicht einsehen, warum wir uns so beeilen sollen, Freund, begreif’ das doch!”

Kaeo fand das verkehrt und sagte:

“Was hat denn so ein Hut mit dem Pilzesammeln zu tun, das musst du mir erklären!

Kham lachte, wusch sich mit dem Regenwasser in der Tonne an der Traufe das Gesicht und erwiderte:

“Gib Ruhe, wenn wir im Wald sind, werde ich es dir zeigen.”

Als er fertig war, griff sich Kham seinen Hut, setzte ihn auf, und sie zogen miteinander los. Als sie so durch den Wald streiften, fühlte Kham, dass er immer noch müde war. Er sprach:

“Freund Kaeo, geh nur schon vor, ich muss mich noch ein wenig hinlegen, bin ja noch so schläfrig! Ich komm’ dir nach, sobald ich frisch bin.”

Kaeo wollte keinen Einspruch erheben, nahm seine Tragstange mit den Bambuskörben auf und sammelte die Pilze hinein, die an seinem Pfade gewachsen. Aber er pflückte nur die grossen und schönen, und die nahm er alle. Stehen liess er die kleinsten, die liess er übrig. Kham kam schliesslich wieder zu sich, stand gemächlich auf und schickte sich an, dem Freunde zu folgen. Da sah er ihn an einen Stamm gelehnt im Walde sitzen, die beiden Bambuskörbe seiner Schulterlast bis zum Rand gefüllt mit den allerschönsten Pilzen. Nun besann sich Kham nicht mehr lange, griff sich seine leeren Körbe und vergaß auch nicht, seinen Hut mitzunehmen. Als er zu dem Platze kam, wo die Pilze zu wachsen pflegten, stellte er fest, dass nur noch die allerkleinsten übrig waren. Da nahm er seinen Hut ab und fing an, den Pilzen kräftig Luft zuzufächeln.

Kaeo machte sich nach einer Weile auf, seinem Freund nachzugehen, denn er wollte doch wissen, wie er es anstellen würde, auf dem abgeernteten Waldboden noch Pilze zu finden. Zu seiner Überraschung gewahrte er Kham, wie dieser mit dem Hut den Boden abfächelte. Er fragte ihn:

“Kham, Freund, du verwendest deinen Hut wohl gar als Fächer für die Pilze Weshalb in aller Welt tust du das”

Kham blickte auf und gab zur Antwort:

“Weisst du denn nicht, dass das alles Luftpilze sind Wenn ich ihnen Luft zufächle, werden die Kleinen aufatmen und zum Dank schnell groß werden!”

Kaeo musste lachen. Er rief:

“Freund, ehy, was du da sagst, ist unsinnig! Pilze müssen ganz langsam wachsen! Es geht ihnen nicht anders als allen übrigen Wesen auf der Welt. Niemand vermag sie zu zwingen, schneller zu wachsen, als es ihre Natur ist. Heute hast du, Freund, keine Pilze sammeln können, lass uns also meine hier teilen – für jeden von uns die Hälfte! Für die Zukunft merk’ dir aber, Trägheit bringt keinen Gewinn, erfinde keine Ausreden und tue, was getan werden muss!”

Da wurde Kham nachdenklich. Die Lehre hatte er verstanden: alles muss dem natürlich vorgezeichneten Weg folgen. Nur wer sich rührt, wer emsig schafft, kann glücklich werden.


Unsere Dorfgeschichten sind dem hübsch illustrierten Buch „Der Reiche und das Waisenkind“ entnommen, herausgegeben von Christian Velder (Foto). Der deutsche Philologe mit Wohnsitz in Chiang Mai hat über viele Jahre thailändische Volkserzählungen übersetzt und gesammelt. Das Buch mit 120 Geschichten kostet 680 Baht. Velders Buch „Der Richter Hase und seine Gefährten“ enthält reich illustrierte Volkserzählungen. Der kleine und zerbrechliche Hase gilt in Südostasien als ein Tier von Klugheit und List. Das Buch kostet 480 Baht. Beide Bücher sind in Pattaya erhältlich in den Buchläden DK an der Soi Post Office und der Central Road, in den Bookazine-Geschäften in der Royal Garden Plaza und im Central Festival Center/Big C, bei Amigo Tailor an der Soi Diamond, im Restaurant Braustube an der Naklua Road sowie in der FARANG-Geschäftsstelle an der Thepprasit Road.

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